Macron kriegt Zunder
Von Hansgeorg Hermann
Als einen »Moment des Schocks« empfand selbst die französische Ministerpräsidentin Élisabeth Borne ihren kurzen Auftritt vor der Nationalversammmlung am Donnerstag nachmittag. Von ihrem Vorgesetzten, dem Staatschef Emmanuel Macron getrieben, verkündete sie um 15.03 Uhr das Ende der demokratischen Diskussion zur »Reform« des Rentensystems. Das Gesetz, gegen das Millionen Franzosen seit Monaten auf den Straßen protestieren und das zuletzt 74 Prozent der Bevölkerung ablehnten, erließ Borne auf Anweisung des Präsidenten per Dekret – mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 und ohne Abstimmung im Parlament. Zu der waren die 577 Abgeordneten zur selben Stunde eigentlich angetreten. Ein »brutaler Akt« für die linken Oppositionsparteien und sogar für einen Teil der bürgerlichen Rechten: ein Diktat, dem nun »jegliche demokratische Legitimität« fehle. Auf der Pariser Place de la Concorde versammelten sich am Abend spontan mehr als 6.000 Menschen, die den Rücktritt der Regierung forderten. Autos wurden in der Hauptstadt und auch in weiteren französischen Städten angezündet. Laut Innenministerium wurden mehr als 300 Menschen festgenommen.
Borne und ihr Kabinett könnten bereits am Montag gestürzt werden – seit Donnerstag abend liegen vier Misstrauensanträge vor. Sie sind eine Waffe der Opposition, die diesmal entscheidend sein könnte. Allerdings nicht gegen den Präsidenten selbst: Bedroht sei nur die Regierung, stellte Macron vor Bornes Auftritt in der ihm eigenen Manier klar – er sei »nicht derjenige, der seinen Posten riskiert«. Dass Macron sich für seine »Reform« letztlich vom Unternehmerverband Medef inspirieren ließ, wie von den Gewerkschaften kolportiert, deutete er selbst – womöglich ungewollt – in einer mageren Stellungnahme an. Das Dekret sei notwendig gewesen, weil »im jetzigen Zustand (der Nationalversammlung, jW) die finanziellen und wirtschaftlichen Risiken zu groß waren«.
In der Tat konnte der Staatschef selbst nach den für ihn positiven Abstimmungen im Senat und im Vermittlungsausschuss keineswegs sicher sein, das Projekt auch durch die Assemblée zu bringen. Rund 20 Dissidenten der bürgerlichen Les Républicains (LR) hatten der Präsident und sein am Donnerstag vormittag im Stundentakt einberufener Ministerrat als unsichere Kantonisten ermittelt; mindestens 40 der 61 LR-Abgeordneten hätten Borne und die nur mit relativer Mehrheit ausgestattete Regierungsfraktion Renaissance aber für die angeblich gewünschte »demokratische Entscheidung« gebraucht.
Was auf den ersten Blick wie eine Niederlage des Parlaments, der Gewerkschaften und des von Millionen getragenen Widerstands aussehe, sei »in Wirklichkeit ein Sieg«, freute sich der mehrfache linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon. Der frühere Anführer der von ihm gegründeten Bewegung La France insoumise (LF) schwärmte von einem »historischen Moment«. Der von der Regierung bis wenige Stunden vor der Sitzung des Parlaments noch öffentlich geleugnete Einsatz des Artikels 49.3, der dann doch angewandt wurde und sogar die eigene Fraktion überrascht habe, beweise endlich, »dass Macron keine Mehrheit hat«.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr gegen den von der Opposition geplanten Sturz der Premierministerin. Zahlreiche LR-Abgeordete kündigten nach dem Abbruch der Plenarsitzung ihren Widerstand gegen die eigene Fraktionsführung an. Die Gewerkschaften riefen unterdessen für den 23. März zu einem neuen Großkampftag und Generalstreik auf.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. März 2023 um 21:04 Uhr)Die Liste macht schwindelig: die unverschämten Lügen seit der Vorstellung der Rentenreform, die geheimen Verhandlungen, um sie zur Abstimmung zu bringen, die Hunderte von willkürlich abgelehnten Änderungsanträgen, die Nutzung (von Artikel 47. 1), um eine verkürzte Debatte im Parlament zu erzwingen, die arrogante Weigerung, sich mit den Gewerkschaften zu treffen – all das, um nach Wochen gegenteiliger Erklärungen einen schändlichen Artikel 49.3 zu zücken, um eine Abstimmung zu verhindern, die er zu verlieren drohte. Mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 und ohne Abstimmung im Parlament hat sich der »Macronismus« das Leben genommen. Dieser 49.3 im Besonderen stellt nicht einfach nur eine bittere strategische Niederlage dar, sondern signalisiert die Nutzlosigkeit und besiegelt sogar, alles in allem, die Schädlichkeit des Präsidialdiktatur für Frankreich. Rätselhaft ist, warum Macron immer noch davon überzeugt, dass die neoliberalen Märkte nur auf seine Rentenreform warten. Was die alles regulierenden Märkte am meisten hassen, ist Instabilität. Und in die Instabilität treibt seine schlecht durchdachte Rentenreform Frankreich, seine Demokratie und seine Arbeitnehmer. Die soziale Krise war schon lange da. Sie wird nun durch eine politische Krise ergänzt. Niemand hat mehr die Kontrolle darüber, was mit der Wut geschehen wird, die sich seit Macron an der Macht ist, jetzt entlädt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Matthias H. (17. März 2023 um 21:26 Uhr)Dieses einigermaßen schmutzige Manöver zeigt mustergültig auf, wie eine repräsentative Demokratie zuverlässig den Menschen dient und genau das umsetzt, was von einer Mehrheit der Bevölkerung gewünscht ist … Ich beglückwünsche die Franzosen dazu, dass sie nachhaltig kräftigen Gegenwind organisieren und sich gegen die Arroganz der Machteliten zur Wehr setzen – Respekt! In Deutschland würde man sich leider fast kampflos ergeben und sich überwiegend den vorgeblichen demografischen »Sachzwängen« unterordnen, fürchte ich.
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