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Aus: Ausgabe vom 16.03.2023, Seite 12 / Thema
Deutscher Imperialismus

»Deutschland muss führen«

Eine Auswahl von Texten aus dem Sammelband »Der Schwarze Kanal. Ukraine-Feldzug deutscher Medien 2014–2022«
Von Arnold Schölzel und Reinhard Lauterbach
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Endlich: die »Enttabuisierung des Militärischen« (Gerhard Schröder). Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan, Juli 2008

Der soeben im Verlag 8. Mai erschienene Sammelband »Der Schwarze Kanal. Ukraine-Feldzug deutscher Medien 2014–2022« enthält 66 Texte von Arnold Schölzel (AS) und Reinhard Lauterbach (RL). Ihre Artikel widerspiegeln indirekt den acht Jahre lang von deutschen Leitmedien verschwiegenen Krieg Kiews in der Ostukraine. Die sogenannte Qualitätspresse ersetzte Berichterstattung schon vor dem Putsch in Kiew im Februar 2014 durch antirussische Propaganda. Die folgende Auswahl von Kolumnen aus jenem Jahr dokumentiert: Was mit Hilfe von USA, NATO und EU als Staatsstreich und Bürgerkrieg in der Ukraine angezettelt wurde, sollte den Weg zur direkten Konfrontation des Westens mit Russland ebnen. Wer das wissen wollte, konnte es hier lesen. (jW)

***

Mobilmacher

Unter der Überschrift »Deutschland muss führen« meldete sich mit Volker Rühe (CDU) am 21. Januar in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ein Veteran des kriegerischen Aufstiegs der 1990 vergrößerten Bundesrepublik zu Wort. Der ehemalige Verteidigungsminister geißelt darin deren »sicherheitspolitische Passivität«, die ihrer Rolle als »bevölkerungsreichster Staat Europas und als einer global führenden Wirtschaftsmacht nicht entspricht«. Sie spiele in Afghanistan, Libyen oder Mali eine »unwürdige Rolle«, handele »unmoralisch« und »uneuropäisch«. Hätten sich alle so verhalten wie Deutschland, »wäre Afghanistan heute in einer noch schwierigeren Lage«. Nebenbei: Der in Europa liegende Teil Russlands wird von etwa 120 Millionen Menschen bewohnt und ist auch geographisch etwas ausgedehnter als die Bundesrepublik. Aber russische Gegebenheiten haben deutsche Strategen seit Bismarcks Tod wiederholt wenig interessiert, Rühe steht da in einer beachtlichen Tradition. In Zeiten, in denen täglich von einer Entscheidung zwischen Europa und Russland zu hören ist, um die in der Ukraine gekämpft werde, fällt die Floskel von einem Europa, in dem Deutschland von einem Rühe wegen seiner angeblichen Größe als einzige Führungsmacht halluziniert wird, ohnehin nicht auf. Das Völkchen macht seine Rechnung noch immer ohne den russischen Wirt.

Rühes imperativische Polterei ordnet sich in jenes Getöse des Mainstreams ein, das vor der an diesem Wochenende stattfindenden »Sicherheitskonferenz« in München besonders anschwoll. Die Stichworte lauten: »mehr deutsche Verantwortung«, »mehr deutsches Engagement«, »es wird zu Recht von uns erwartet, dass wir uns mehr einmischen« (Frank-Walter Steinmeier), »gemeinsam Verantwortung übernehmen« (Ursula von der Leyen). Jede dieser Floskeln steht für die Verkündung eines weiteren Schritts zurück in deutsche Kriegspolitik. Rühe selbst gab als Minister Anfang der 90er Jahre den Startschuss dazu. 1997 resümierte zum Beispiel die Berliner Zeitung, die Deutschen seien »wohldosiert« von ihm »an eine neue sicherheitspolitische Rolle gewöhnt« worden. Erläuternd hieß es: »So entsandte Rühe zunächst ein paar Sanitäter nach Kambodscha und zog unter UN-Kommando in die somalische Wüste. Als auch von dort alle heil zurückkamen, konnte der Bundeswehr-Einsatz in Ex-Jugoslawien beginnen.«

Nachdem SPD und Grüne 1998 an die Regierung gewechselt waren, fielen mit dem NATO-Luftkrieg gegen Serbien die bis dahin noch gesetzten Tabus »Kampfeinsatz« und »Bindung ans Völkerrecht«. 2001 wurde mit der Besatzung Afghanistans auch die Beschränkung von Kriegen auf Europa oder auf das Gebiet der NATO-Mitgliedstaaten beseitigt. Gerhard Schröder wertete diesen Fortschritt 2002 als »Enttabuisierung des Militärischen« und nannte ihn seine »größte politische Leistung«. Dann trat einige Jahre fast Stagnation ein, und es war Rühe, der 2008 knurrte, man sei mit Krieg schon einmal weiter gewesen. Das war vor dem Massaker bei Kundus durch Bundeswehr-Oberst Georg Klein im September 2009. Der ist inzwischen General, und so kann es insgesamt weitergehen. In der FAZ fordert Rühe nun Vorpreschen und führt als »Richtschnur« die »Erfahrung der 90er Jahre« an: »Um unsere nationale strategische Handlungsfähigkeit zu wahren, benötigen wir starke Bündnisse. Diese können aber nur dauerhaft funktionieren, wenn darin eine faire Lastenteilung, aber auch eine faire Risikoteilung besteht.« Mit dem »Teilen« meint Rühe deutsche »Führung«: »Kurzum: In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten ihr Engagement für Europa reduzieren und viele Staaten der EU finanziell am Ende sind, ist die Aufgabe der Starken, mit Beispiel zu führen und Europas Handlungsfähigkeit zu sichern. Deutschland muss führen, damit Europa nicht schwächer wird.« Wen dieser Satz des Hamburgers Rühe an die Inschrift auf dem Kriegerdenkmal von 1936 am Dammtorbahnhof der Hansestadt erinnert – »Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen« –, der dürfte die beabsichtigte Assoziation haben.

Noch schreckt das deutschnationale Geblöke. Am 30. Januar veröffentlichte die FAZ einen kritischen Leserbrief aus der Schweiz zu Rühes Ballerrhetorik. Der Schreiber hofft darin, dass es »in Deutschland ein kollektives Gedächtnis dafür gibt, was Krieg bedeutet«, und dass Menschen mit diesem Gedächtnis mithelfen, »den Respekt vor dem Krieg auch in der deutschen Politik wiederherzustellen«. Die ist aber darüber hinweg: Die Zeit der Gewöhnung an Krieg ist vorbei, die der Mobilmachung beginnt.

(1.2.2014, AS)

Warmes Haus, kalte Füße

Mit der Ukraine haben die Deutschen kein Glück. Der Frieden von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland im März 1918 war noch nicht unterzeichnet, da befreiten Besatzungstruppen das Land vom Bolschewismus, das heißt hinterließen eine Blutspur. Als 1941 der nächste Freiheitsexport startete, stießen Wehrmacht und SS auf nicht wenige begeisterte Anhänger des damaligen Modells Deutschland. Als Joseph Goebbels später mitteilte: »Wir wollen uns am ukrainischen Weizen, kaukasischen Öl und dem Erz von Kriwoi Rog gesundstoßen«, gab es einige Misshelligkeiten mit den ukrainischen Helfern. Die wurden aber bald beigelegt, und so konnten die Morde an Polen, Juden und Kommunisten bis Anfang der 1950er Jahre fortgesetzt werden – mit tatkräftiger Unterstützung der Abteilung Fremde Heere Ost, nach dem Zweiten Weltkrieg als Filiale der CIA umbenannt in »Organisation Gehlen« beziehungsweise BND.

1991 zerfiel die Sowjetunion, und nun traten die neusten deutschen Befreiungsheerführer auf den Plan. Sie forderten regelmäßig den Austausch des einen einheimischen Oligarchen durch einen anderen. Die Ukraine ist deutsches Einmischungsland.

Erinnert sich noch jemand an Claudia Nolte? Vom Neuen Forum in der DDR Ende 1989 gelangte sie folgerichtig in die CDU und 1994 als Familienministerin in Helmut Kohls Kabinett. Sie wärmte den hoffnungsfrohen und wie heute zum Teil gut bezahlten Freiheitskämpfern Kiews 2004 das Herz mit Berichten, wie sie 1990 mithalf, die Diktatur abzuschaffen und die Freiheit einzuführen. Aber die Statthalter in Kiew konnten sich über die Aufteilung der Beute nicht einigen, und die Bevölkerung wählte 2010 ein weiteres Bereicherungsgenie, Wiktor Janukowitsch, zum Präsidenten. Der war störrisch, wahrscheinlich beim Preis, und hat seitdem Ärger mit Berlin. Das konnte allerdings gegen ihn nur einen des Ukrainischen wenig mächtigen Boxer aufbieten statt wie weiland einen erfahrenen Massenmörder wie Stepan Bandera. Für den wurden in der Ukraine in den letzten Jahren viele Denkmäler aufgestellt, rund um Lwiw ist er Nationalheld, in der Tradition seiner Milizen organisierten und bewaffneten sich einige tausend, vielleicht zehntausend Leute. Ihre Dienste nahmen die Berliner gern in Anspruch, nur zeigen wollten sie sich zunächst nicht mit ihnen. Die Bandera-Leute haben nun mit Umbringen und Zerstören begonnen, und das ruft nach Anerkennung. Es war von spezieller Symbolik, dass sich der deutsche Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag zusammen mit Oleg Tjagnibok, der sich in der Nachfolge Banderas sieht, den Fotografen präsentierte. Die Rede war von »Vermittlung«. In Kiew richteten die Deutschen im September 1941 das Massaker von Babin Jar an, die größte Einzelmordaktion des Zweiten Weltkrieges, der weit über 30.000 Juden zum Opfer fielen.

Die Befreiung geht weiter. Das verlangt jedenfalls die deutsche Presse – hochdifferenziert. In der Provinz klingt es verlässlich nach Ostlandreiterei. Westfälische Nachrichten (Münster) am Donnerstag: »Wenn die EU das Blatt wenden will – im Sinne der proeuropäischen Demonstranten in der Ukraine –, dann muss sie den Mut aufbringen, sich mit Russland anzulegen.« Ähnlich juckt es das alternative Kriegsblatt Taz am Freitag: »Das Drehbuch für die blutigen Geschehnisse in Kiew wurde in Moskau geschrieben. Das erklärt auch die vielen russischen Sicherheitskräfte auf Kiews Straßen. (…) Russland möchte den Osten und Süden der ­Ukraine annektieren.« Was nicht geht, die Ukraine ist seit 1918 unser, von zeitweiliger bolschewistischer Besetzung abgesehen.

Das sehen zwar auch jene Zeitungsmacher so, die dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft näherstehen, aber die Sorge um die deutsche Exportquote treibt sie um. So schreibt denn FAZ-Herausgeber Günther Nonnenmacher am Freitag: »Der Kampf« in der Ukraine habe »das Zeug, sich zum schwersten Konflikt zwischen Ost und West seit dem Untergang der Sowjetunion zu entwickeln«. Und auf faz.net ergänzt Klaus-Dieter Frankenberger: Nie zuvor habe »sich die Europäische Union auf einen geopolitischen Konflikt mit Russland eingelassen, der in der Substanz wie in der Rhetorik an dunkle, alte Zeiten erinnert und in dem es ums große Ganze geht«. Und hinzu kommt, jammert wiederum Nonnenmacher: »Russland ist wieder einer der großen Spieler in der Weltpolitik geworden.« Nicht nur Janukowitsch, sondern auch der Westen stecke in der Sackgasse. In der Neuen Zürcher Zeitung beschreibt ein Schweizer Wissenschaftler das Dilemma so: »Letztlich muss die EU sich wohl die Frage stellen, was ihr wichtiger ist, ihre Werte oder aber ein warmes Haus.« Kalte Füße haben einige jedenfalls schon.

(22.2.2014, AS)

Wiederkehr des Amselfelders

Der Taz-Kriegskorrespondent Erich Rathfelder gehört zu den Journalisten, deren Auftauchen signalisiert: Hier schießen bald wieder Deutsche scharf – oder lassen schießen. Seine antiserbischen Tiraden in der Taz aus den 90er Jahren, zu einer Zeit, als die Grünen gerade beschlossen (1995), demnächst aus der NATO auszutreten, waren richtungweisend. Als er im Sommer 1998 im Kosovo ein Massengrab durch Hörensagen »entdeckte« und die genaue Zahl der dort verscharrten Toten sofort lieferte, hievte die damalige Taz-Chefredaktion unter Barbara »Bascha« Mika die Story auf Seite eins. ARD-Korrespondent Friedhelm Brebeck konstatierte damals, der »Erich« habe »etwas berichtet, was nicht passiert ist«. Geschadet hat das Lügengeschäft Rathfelder nicht. Aber nach den Bundestagswahlen 1998 bildeten SPD und Grüne eine Koalition, die sofort mit den Kriegsvorbereitungen gegen Jugoslawien begann. Die gröbste Hetze übernahmen Kanzler Gerhard Schröder, Außenminister Joseph Fischer und Kriegsminister Rudolf Scharping persönlich, Rathfelder durfte Nebenarbeiten verrichten. Was blieb, waren einige schwer durch Trink- und antislawische Hassarbeit verdiente Namenswitze von »Amselfelder« bis »Erich Kradmelder«.

Aber deutsche Kriegsparteien vergessen keinen, der sich als Wahrheitsschlächter verdient gemacht hat. Am 13. Mai war es für Rathfelder soweit. Er durfte sich in der Taz unter dem Titel »Vom Bosnien-Krieg lernen« als »Fernfuchtler« (Peter Handke) zu Ukraine, Russland, Putin und allem drumherum äußern. Der Artikel ist gewohnt spiritös statt substanzvoll. Rathfelder inszeniert einen Ähnlichkeitswettbewerb zwischen dem früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das ist nach den bisher vorherrschenden Hitler- und Stalin-Vergleichen geradezu originell. Die Gemeinsamkeit des Serben und des Russen besteht bei Rathfelder darin, dass er beide nicht mag, daher wird aus seinem Vergleich schnurstracks eine Gleichsetzung.

Bei Rathfelder geht das so: »Die Verbindung der aus dem Kommunismus stammenden totalitären Machtstrukturen mit dem serbischen Nationalismus führte in einen Eroberungskrieg, inklusive ethnischer Säuberungen.« Das stellt zwar die Dinge auf den Kopf, weil es die von außen betriebene Auflösung Jugoslawiens unterschlägt, gegen die sich Serbien wehrte. Aber Daten und Abläufe stören einen wie Rathfelder nicht weiter.

Ähnlichkeiten sieht der Taz-Mann in der »Reaktion aus Moskau« auf die Maidan-Proteste in Kiew: »Wie in Serbien versuchte die russische Propaganda, die politischen Gegner auf dem Maidan als ›faschistische‹ Bewegung darzustellen und die geschichtlichen Erfahrungen der russischen Bevölkerung mit dem Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten 1941 bis 1945 für die jetzige Politik zu instrumentalisieren.« Auch die serbische Propaganda habe die Erinnerung an die Schrecken der kroatischen Ustascha-Herrschaft 1941 bis 1945 genutzt. Der Rest des Textes besteht im wesentlichen aus solch Geraune über das angebliche Rot-gleich-Braun. Das ist läppisch und wäre nicht erwähnenswert.

Es ist aber auch in einem Grad bösartig, dass es aufmerken lässt. In den Artikel eingerückt ist ein Satz, der sich im Text nicht findet: »In Serbien wie auch heute in Russland gibt es keine historisch tragfähige Beschäftigung mit dem Faschismus.« Übertragen auf das tatsächlich von Rechtsextremen regierte Israel hieße der Taz-Satz: »Dort gibt es keine historisch tragfähige Beschäftigung mit dem Faschismus.« Das verbieten sich die Rathfelder und Co. noch, nicht aber bei Russen und anderen slawischen Völkern. Ihnen verzeihen sie den deutschen Vernichtungskrieg nie.

Bleibt anzumerken: Der Taz-Artikel erschien elf Tage nach dem Pogrom von Odessa gegen Linke und Maidan-Gegner, vier Tage nach dem Massaker, das die ukrainische »Nationalgarde« zusammen mit kriminellen, von Oligarchen ausgestatteten Banden in Mariupol veranstaltet hatte. Von diesen Verbrechen steht bei Rathfelder kein Wort, die Berichterstattung in den meisten deutschen Medien tendierte gegen null. Wer neofaschistische Verbrechen beschweigt, benötigt keine moralische Rechtfertigung mehr wie in den 1990er Jahren, als die Kriege des Westens in »humanitäre Interventionen« umbenannt wurden. Für den Mord an Russen hat die deutsche Propaganda seit altersher nur die Begründung, die Taz-Rathfelder liefert: Alles Kommunisten, also Faschisten, die Russen.

(17.5.2014, AS)

Der hellere Oligarch

Fast Satz für Satz eine Lüge. Das lässt sich von den meisten »Berichten« der deutschen Mainstreammedien zur Ukraine und dem dort von der Kiewer Putschregierung in Gang gesetzten Bürgerkrieg sagen. Das wäre nicht nennenswert, hätte es nicht strategischen Charakter: Letztlich geht es nicht um die Ukraine, sondern darum, für eine neue aggressive Politik gegen Russland eine adäquate Einstellung in der bürgerlichen Öffentlichkeit zu stiften, also mindestens die historisch verwurzelte Antipathie gegenüber dem östlichen Reich neu zu beleben. Probleme gibt es dabei allerdings mit den nichtbürgerlichen Schichten und den Ostdeutschen im Lande: Offenbar traut eine beachtliche Minderheit, im Osten möglicherweise die Mehrheit, keinem Bild, das in »Tagesthemen« oder »Heute-Journal« offeriert wird und keiner Zeile im Gedruckten.

Am 23. Mai berichtete die FAZ über Alarmstimmung in dieser Hinsicht bei der ostdeutschen CDU. Vertreter aus mehreren Bundesländern hätten »angesichts der jüngsten Umfragewerte die Befürchtung geäußert, dass die Krise in der Ukraine für Stimmenverluste sorgen könnte«. Das war Jammern auf hohem Niveau, wie sich am Sonntag zeigen sollte, als die Ost-Christdemokraten bei den Wahlen zwar einige Prozent weniger als die im Westen einfuhren, aber insgesamt zulegten. Die FAZ gab jedenfalls eine Bemerkung der Ministerpräsidentin Thüringens, Christine Lieberknecht, wieder, »die Krim-Krise, in der die Bundesregierung für Freiheit eintrete, habe Ost und West gespalten. Sie wecke Ängste und Sorgen im Osten«. Der Generalsekretär der CDU Thüringens, Mario Voigt, habe erklärt, das Thema »Krieg und Frieden« werde in Ost und West anders wahrgenommen. Es stoße »tiefer in das persönliche Empfinden« der Deutschen im Osten als im Westen vor. Voigt habe daran erinnert, dass die ostdeutschen Wähler schon bei früheren Anlässen, wie der Bundestagswahl 2002 im Zeichen des Irak-Krieges, »stärker reagierten und nach links gingen«.

Sein Amtskollege in Mecklenburg-Vorpommern, Vincent Kokert, meinte, 40 Jahre Sozialismus hätten eine Grundskepsis den US-Amerikanern gegenüber erzeugt und grundsätzlich prorussische Haltung. »Es gibt da zwei Sichtweisen, und ich kann am Thema Ukraine sofort erkennen, ob jemand aus dem Westen oder aus dem Osten kommt.« Und Sachsens CDU-Generalsekretär Michael ­Kretschmer bestätigt laut FAZ: »Die scharfe Kritik an Russland haben hier viele Leute in den falschen Hals bekommen.« Der sächsische CDU-Spitzenkandidat für die Europawahl, ­Hermann Winkler, ergänzte: »Statt möglicherweise korrupte Politikerinnen wie Julia Timoschenko zu hofieren, uns in Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten zu üben und den Schulterschluss mit fragwürdigen politischen Parteien in der Ukraine zu suchen, müssen wir den Dialog mit Russland neu beleben.« Eine konfrontative Politik sei »blind gegenüber der Geschichte«.

So scheint der untergegangene Staat auch fast 25 Jahre nach seinem Ende eine heilsame Wirkung zu haben. Ein Grund mehr, auf derart defätistische Indoktrination keine Rücksicht zu nehmen. Ein repräsentatives Beispiel für solch Freiheit beim Fortspinnen der verordneten Ukraine-Doktrin ohne Rücksicht auf Tatsachen lieferten Alice Bota und Michael Thumann in der Zeit vom 28. Mai. Wenige Wochen nach dem Verbrennen von weit mehr als 40 Menschen durch einen faschistischen Mob in Odessa, nach dem Massaker an Zivilisten und Polizisten in Mariupol durch die Söldner der Kiewer Putschisten und der Anordnung des Milliardärs und gewählten Präsidenten Petro Poroschenko, den Bürgerkrieg in der Ostukraine energischer zu führen, schreiben sie: »Nach diesem Wahlsonntag steht die Ukraine vor aller Augen, welche Ironie, als eines der am wenigsten faschistischen Länder in Europa da«. Poroschenko, der Mitte des vergangenen Jahrzehnts wegen allzu dreister Finanzmanipulationen einige Schwierigkeiten selbst in einem Schmiergeldstaat wie der Ukraine hatte, stehe zwar »mit seinen Unternehmen für die Verquickung von Geschäft und Politik«, aber: »Er ist in der Gesellschaft der Oligarchen allerdings eine der deutlich helleren Gestalten«. Die Zeit-Schreiber machen noch vor der Erhebung des Maidan- und Faschistenfinanziers zur Lichtgestalt Halt. Aber diese Hemmung werden sie und das deutsche Pressekorps leicht hinter sich lassen. Wer Massenmord so spielend verdrängen kann wie Frau Bota und Herr Thumann, ist bei antirussischer Propaganda zu jeder Steigerung fähig.

(31.5.2014, AS)

Grünes Newspeak

Eines kennzeichnet die grüne Partei seit ihrer Gründung: Sie mag Russland nicht, ob in sowjetischer oder kapitalistischer Form. Sie kann es sogar nicht ausstehen. Das mag ihren Erfolg in der einstigen Friedensbewegung ermöglicht haben, denn da traf sich das eingewurzelte deutsche Urteil über »den Iwan« mit der jahrelangen Gehirnwäsche, die sich etliche Jungakademiker in maoistischen Kleinparteien antaten: dass der »sowjetische Sozialimperialismus« der »Hauptfeind der Menschheit« sei. Was die chinesische KP aus Beleidigung darüber, dass Stalin der Volksrepublik keine Atomwaffen überlassen wollte, in die Welt setzte, hat sie inzwischen – nachdem sie die Bombe selbst gebaut hat – in die ideologische Rumpelkammer gestellt und pflegt eine strategische Partnerschaft mit Moskau. Nicht alle haben diesen ideologischen Schwenk mitgemacht. Ein Mensch wie Ralf Fücks, vor seinem Engagement bei den Grünen Mitglied im maoistischen KBW, der auf Beijings Order auch noch vom südafrikanischen Apartheidregime finanzierte Banden wie die angolanische UNITA und die Renamo in Mosambik hochjubelte, weil sie von Moskau gestützte Befreiungsbewegungen bekämpften, ist sich in einem Punkt treu geblieben, der in Deutschland immer anschlussfähig ist und zu Höherem befähigt: Russenfeindschaft.

Am 23. August veröffentlichte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Namensartikel unter dem Titel »Was uns die Ukraine angeht«. Darin lobte er vorab die Kiew-Reise von Angela Merkel, nicht ohne ihr kürzlich begangene Sünden vorzuhalten: Sie habe »ernsthafte Sanktionen hinausgezögert«. Nicht nur wegen der guten Geschäfte deutscher Kapitalisten in Russland, sondern »weil die europäische Sicherheitsordnung auf dem Spiel steht«.

Fücks weiß also, was er sagt, wenn er fordert, diese Sicherheitsordnung aufs Spiel zu setzen. Der Mann entblödet sich nicht, dies zu einer besonderen Verpflichtung der Deutschen zu machen, gerade weil »die Ukraine unter der deutschen Besatzung und dem Krieg gelitten (hat) wie kaum ein anderes Land«. Nur die Ukraine? Gleichwohl fordert Fücks nun, die Machtergreifung jener zu fördern, die an diesem Leiden von ukrainischer Seite mitgewirkt haben: der ukrainischen Nationalisten, die sich ausdrücklich zum Erbe der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) von Stepan Bandera bekennen, deren Banner sie bei jeder Gelegenheit durch Lwiw und Kiew tragen – in Odessa in Begleitung von Brandsätzen, wenn man daran erinnern darf. Daran zu erinnern und diese Leute Faschisten zu nennen, ist ganz verboten. Fücks widerlegt die »Faschismusvorwürfe« überhaupt nicht. Ihm reicht der Verweis darauf, dass sie aus »der Giftküche der Kreml-Propaganda« stammten, also aus der falschen Quelle. Feindpropaganda – kennen wir das Argument nicht irgendwoher?

Nicht, dass Fücks nicht klar wäre, dass die ukrai­nischen Bandera-Anhänger nicht die sind, die er sich in Berlin-Kreuzberg als Integrationsbeauftragte wünschen würde. Er nennt ihr Treiben beiläufig »Ethnonationalismus«, als wäre es eine akademische Fachrichtung. Ganz anders, wenn er dasselbe bei Russlands Versuch diagnostiziert, »im Namen historischer Rechte die Grenzen neu (zu) ziehen«. Das stelle die »Nachkriegsordnung in Frage«. Darf man fragen, wer sich 40 Jahre lang als Rechtsnachfolger eines untergegangenen Staates aufgeführt hat und danach unter der überhaupt nicht »ethnonationalistischen« Parole »Wir sind ein Volk« »alle Volksgenossen in einem Großreich vereinigt« hat? Was wären wir ohne unser zweierlei Maß.

Fücks weiß aber noch einen Grund, warum Deutschland die neuen Kiewer Machthaber unterstützen müsse: um »keine Zweifel aufkommen zu lassen, dass die Westbindung Deutschlands keine vorübergehende Episode war«. Nur zur Erinnerung: Als es die DDR noch gab, machte sich jeder Depp in der BRD lustig über die Beschwörungen der »ewig unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion« durch Ostberliner Politiker. Heute macht Fücks den West-Honecker. Mit einem kleinen Unterschied: Die Servilitäten der DDR an die Adresse Moskaus haben in den 40 Jahren ihrer Existenz keinen Krieg in Europa zur Folge gehabt. Weil die Sowjetunion auch keinen wollte. Die Fesselung (»Westbindung«) der BRD an Washington hat da etwas andere Konsequenzen, denn wer gebunden ist, muss die Bewegungen des Ungebundenen mitmachen. Der ukrainische Generaloberst Wladimir Ruban kolportierte vor ein paar Tagen einen in der Ukraine zirkulierenden bitteren Witz: Die USA kämpften gegen Russland bis zum letzten Ukrainer. Wenn es nach Fücks geht, macht die BRD mit: im – westgebundenen – gleichen Schritt und Tritt.

(30.8.2014, RL)

Die beiden Autoren stellen das Buch am Donnerstag, dem 23. März, um 19 Uhr in der Maigalerie der jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin, vor.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (17. März 2023 um 04:49 Uhr)
    Hitler bedankte sich in einer Geheimrede für die Hilfe vor deutschen Redakteuren und Velegern: »Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens und der Friedensabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war. Es ist selbstverständlich, dass eine solche jahrzehntelang betriebene Friedenspropaganda auch ihre bedenklichen Seiten hat; denn es kann nur zu leicht dahin führen, dass sich in den Gehirnen vieler Menschen die Auffassung festsetzt, dass das heutige Regime an sich identisch sei mit dem Entschluss und dem Willen, den Frieden unter allen Umständen zu bewahren. Das würde aber nicht nur zu einer falschen Beurteilung der Zielsetzung dieses Systems führen, sondern (…) Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete. Es war nunmehr notwendig, das deutsche Volk psychologisch allmählich umzustellen und ihm langsam klarzumachen, dass es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen. Dazu war es aber notwendig, nicht etwa nun die Gewalt als solche zu propagieren, sondern es war notwendig, dem deutschen Volk bestimmte außenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, dass die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt zu schreien begann. Das heißt also, bestimmte Vorgänge so zu beleuchten, dass im Hirn der breiten Masse des Volkes ganz automatisch allmählich die Überzeugung ausgelöst wurde: wenn man das eben nicht im Guten abstellen kann, dann muss man es mit Gewalt abstellen; so kann es aber auf keinen Fall weitergehen. Diese Arbeit (…) wurde planmäßig begonnen, planmäßig fortgeführt, verstärkt.« Im Westen nichts neues. Bekommt jetzt auch Selenskij den Oscar für die Hauptrolle?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (16. März 2023 um 16:03 Uhr)
    Noch gar nicht zu haben? Wir bleiben dran.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (16. März 2023 um 15:44 Uhr)
    Schon bestellt. Freu mich enorm!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (16. März 2023 um 01:35 Uhr)
    Habt Ihr noch in Erinnerung, wie Bruce Springsteen für Joe Hill vor Hunderttausenden sang? Bis zum Ende werde ich’s niemals vergessen. Dass er von Joe Hill geträumt hat und sagte, dass Joe Hill für ihn niemals gestorben ist. So geht’s mir auch. Wer so denkt, will auch für alle Eingekerkerten die Freiheit!

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