Kriegsspiel im Gutshaus
Von Gabriel Kuhn, Stockholm
Es gab Zeiten, da trafen sich hochrangige Politiker der nordischen Länder, um über Bildungswesen, Gesundheitssystem und Kulturförderung zu diskutieren. Nicht im Jahr 2023. Als am Mittwoch der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson, sein norwegischer Amtskollege Jonas Gahr Støre und der finnische Staatspräsident Sauli Niinistö im Gutshaus Harpsund in Schweden zusammenkamen, standen andere Themen auf der Tagesordnung: Fragen der internationalen Sicherheit, die Unterstützung der Ukraine, die militärische Zusammenarbeit in der Nordkalotte (grob: die nördliche Spitze Skandinaviens) und die NATO.
Das rund 100 Kilometer von Stockholm entfernte Gutshaus Harpsund dient schwedischen Ministerpräsidenten seit 1952 als Landsitz. Kristersson empfing hier zum ersten Mal ausländische Delegationen. Seit Oktober 2022 führt er eine bürgerliche Koalition an, die eng mit den ultrarechten Schwedendemokraten zusammenarbeitet. An dem Treffen am Mittwoch nahmen auch die Außen- und Verteidigungsminister Schwedens, Norwegens und Finnlands teil.
Nach einem dreistündigen Gespräch stellten sich Kristersson, Støre und Niinistö der Presse. Kristersson betonte die nordische Einheit. Von »ausländischen« Gästen könne in diesem Fall eigentlich nicht die Rede sein. Dann ging es ums Wesentliche: Von der zukünftigen NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands sei Großes zu erwarten. Die NATO würde eine »neue Tiefe und Breite« erhalten. Was das unter anderem bedeutet, daraus machte Kristersson keinen Hehl: Die Nordkalotte sei reich an natürlichen Ressourcen, liege nahe am Nordpol und habe ein Raumfahrtzentrum (im schwedischen Kiruna). Dass die indigene Bevölkerung der Nordkalotte, das Volk der Sámi, an NATO-Kräften in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet wenig Interesse hat, war nicht der Rede wert.
Der Sozialdemokrat Støre versicherte der versammelten Journalistenschar, dass es noch nie bessere Kandidaten für eine NATO-Mitgliedschaft gegeben habe als Schweden und Finnland. Eine geschlossene nordische NATO-Front (Norwegen, Dänemark und Island sind Gründungsmitglieder) mache ganz Europa sicherer. Andere Aussagen waren vom norwegischen Ministerpräsidenten kaum zu erwarten. Einer der sozialdemokratischen Vorgänger in seinem Amt, Jens Stoltenberg, ist seit 2014 Generalsekretär des Kriegsbündnisses.
Verwirrend wurde es, als der finnische Staatspräsident Niinistö, ehemals Vorsitzender der konservativen Nationalen Sammlungspartei, danach gefragt wurde, ob sein Land auch ohne Schweden der NATO beitreten würde. Das Thema ist heikel. In Schweden war eines der wichtigsten Argumente, mit denen die Regierung den Beitrittsantrag durchboxte, dass man das »Bruderland« Finnland mit einer so schwerwiegenden Entscheidung nicht alleine lassen könne. Mittlerweile hat es der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan jedoch geschafft, einen Keil zwischen die »Brüder« zu treiben. Während er Schweden die Ratifizierung des Antrags aus einer Bandbreite von Gründen weiter verweigert (von angeblicher Kurdenfreundlichkeit bis zu geduldeten Koranverbrennungen), zeigt er sich für eine Ratifizierung des finnischen Antrags offen. Niinistö dazu: »Wir werden weiter mit Schweden Hand in Hand gehen. Aber wenn unser Antrag ratifiziert wird, werden wir uns nicht wehren. Dann werden wir Mitglied. Aber ohne Schweden machen wir keinen Schritt.« Kristersson nickte zufrieden. Schließlich könne Finnland nun ohne Schweden Mitglied werden, ohne eigentlich ohne Schweden Mitglied zu werden. Oder so ähnlich.
Krieg verurteilten die Staatsmänner als »schrecklich« und »grausam«, gleichzeitig überboten sie sich bei Versprechen zur militärischen Unterstützung der Ukraine. Um das Dreifache habe er gerade die Militärhilfe für die Ukraine angehoben, ließ Kristersson verlautbaren, was Støre mit einem Fünfjahresplan kontern ließ, der der Ukraine jährlich mehr als 1,5 Milliarden Euro an Militärhilfe verspricht. Seine Kollegen lud Støre zum nächsten »nordischen Verteidigungstreffen« nach Norwegen ein. Dort wird es in derselben Tonart weitergehen.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (24. Februar 2023 um 02:46 Uhr)»Von der zukünftigen NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands sei Großes zu erwarten. Die NATO würde eine ›neue Tiefe und Breite‹ erhalten.« Nett, wie man sich bemüht von der Haupthimmelsrichtung abzulenken: von der nördlichen Höhe. Die Breite muss man sich erst noch von Russland holen. Es geht nämlich um den nördlichen Seeweg von China und anderen asiatischen Ländern , der fast ausschließlich durch russische Hoheitsgewässer führt. Dort investiert Russland viel. Auch China plant einige Häfen. Die Erderwärmung und eine bisher einzigartige russische Eisbrecherflotte, mit der die USA in keiner Weise konkurrieren können, macht diese Route von Jahr zu Jahr interessanter, perspektivisch auch die Förderung von Bodenschätzen in der Arktis. Sie verkürzt die Fahrzeit der Containerschiffe nach Europa erheblich und erhöht die Konkurrenzfähigkeit von China und Russland. Vor allem umgeht sie zwei Nadleöhre, den Suezkanal (durch das Bündnis mit Ägypten quasi unter NATO-Kontrolle) sowie Gibraltar, von den Briten kontrolliert. Die einzige Stelle, wo die NATO den »Sack« auch im Norden schließen könnte, um China und Russland zu erpressen, wäre diese Nordspitze, ein zweites Gibraltar. Mit »Tiefe« der NATO ist gemeint, dass dies im vorgesehenen Nordkrieg die U-Boote erledigen wie im Zweiten Weltkrieg im Atlantik. Russland vom Schwarzen Meer und Mittelmeer abzudrängen, scheint mal wieder nicht zu klappen (NATO Mitgliedschaft Georgien, Ukraine, Stützpunkt NATO in Sewastopol, Dardanellen). Da müssen wir nach Norden umdisponieren. Für den schnellen Truppentransport dorthin ist auch eine zweite Bahnlinie ins Baltikum geplant, welche einen durchgehenden Verkehr ohne Wechsel in der Spurweite ermöglicht. Angeblich soll sie für die Bewohner des Baltikums sein (ökonomisch sinnlos). Sie soll später nach Finnland erweitert werden . Die restliche Landverbindung über Estland schafft man sich dann im Kampf »gegen den russischen Aggressor« wie bei der Blockade von Leningrad.
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Leserbrief von Hagen Radtke aus Rostock (24. Februar 2023 um 17:11 Uhr)Was hat denn der nördliche Seeweg bitte mit den NATO-Beitritten Finnlands und Schwedens zu tun? Die haben überhaupt keine Küste im Nordpolarmeer, sie liegen nur an der Ostsee. Norwegen grenzt direkt an Russland, im Arktischen Ozean verbleibt die NATO-Grenze also genau da, wo sie seit 1949 schon immer lag.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (27. Februar 2023 um 10:15 Uhr)Sie möchten wissen: »Was hat denn der nördliche Seeweg bitte mit den NATO-Beitritten Finnlands und Schwedens zu tun? Die haben überhaupt keine Küste im Nordpolarmeer, sie liegen nur an der Ostsee.« Beim Krim-Krieg Mitte des 19. Jahrhunderts blockierten die Briten und Franzosen die Ostsee vor St. Petersburg. Da fragen sie sich jetzt sicher auch: Was haben St. Petersburg und die Ostsee mit der Krim zu tun, die liegt doch am Schwarzen Meer. Wenn man einen Krieg gegen Russland führt, dann überall, an allen Stellen und Fronten. Für einen geplanten Nordkrieg um die Bodenschätze der Arktis und die dortige Schifffahrt braucht man die Territorien Finnlands und Schwedens für Abschussrampen von Mittelstreckenraketen, Logistikzentren sowie das Menschenmaterial als Kanonenfutter, außerdem die Transportwege der Eisenbahn, Brücken, Tunnel usw. für schnelle Bereitstellung von Kriegsmaterial und Soldaten. Wozu brauchen die USA Deutschland (z. B. Ramstein) für einen Krieg gegen den Iran oder Russland, wo Deutschland doch gar keine Grenze mit denen hat?
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