Engpass mit System
Von Oliver Rast
Sie werden knapper, die Lieferzeiten länger, die Wartelisten größer. Gar nicht einfach, rezeptfreie oder verschreibungspflichtige Medikamente direkt beim Arzt oder in der Apotheke zu bekommen. Eine Alltagserfahrung zahlreicher Patienten, die Befürchtungen hervorruft. Denn: Insgesamt 38 Prozent der Befragten schätzen die Gefahr von Lieferengpässen als »sehr hoch« oder »eher hoch« ein, zeigt eine neue, repräsentative Studie des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH), über die dpa am Montag berichtete. Und Thomas Preis, Chef des Apothekerverbands Nordrhein, sagte gleichentags gegenüber der Rheinischen Post, dass Arzneimittel bei fast jedem zweiten Rezept nicht vorrätig seien. Mal gebe es bestimmte Mittel gar nicht, mal nicht in gewünschter Dosierung oder Form.
Bereits in den vergangenen Wochen und Monaten hatten Branchenvertreter über Lieferengpässe bei patentfreien Medikamenten wie Fiebersäften für Kinder, aber auch bei Präparaten für Erwachsene, Antibiotika, Krebsmedikamenten und Blutdrucksenkern etwa, berichtet. Insgesamt haben laut BAH-Studie 30 Prozent der Befragten binnen zwölf Monaten Schwierigkeiten oder Knappheiten beim Kauf von Arzneien erlebt. Zum Vergleich: Im Juni 2022 waren es 18 Prozent, so der BAH weiter. Besonders betroffen sind Ältere. Entsprechend schätzten Personen zwischen 50 und 69 Jahren das Risiko von Lieferstaus überdurchschnittlich als groß ein (41 Prozent), Menschen über 70 Jahre sogar zu 43 Prozent. Nur, wie bedrohlich ist die Lage?
Vorweg: Ursachen von Lieferengpässen bei Medikamenten seien vielfältig, erklärte eine Sprecherin von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Montag auf jW-Nachfrage. Welche sind das? »Starker Kostendruck bei der Produktion patentfreier Arzneimittel, Konzentration auf wenige Produktionsorte, ferner plötzliche starke Nachfragesteigerungen oder Qualitätsprobleme.« Aber: Lieferengpässe führten nicht zwangsweise zum Versorgungsengpass. Oftmals stünden alternative Präparate zur Verfügung, beispielsweise andere Packungsgrößen und Wirkstärken. Hinzu kommt: Beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte seien aktuell rund 400 Lieferengpässe (bei circa 100.000 behördlich zugelassenen Medikamenten) gemeldet, vor allem bei generischen »Nachahmerprodukten«. Und nicht zuletzt befinde sich der Referentenentwurf zum »Arzneimittellieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz«, kurz ALBVVG, im parlamentarischen Verfahren. Ministerielle Beruhigungspillen, mehr nicht, sagen Kritiker.
Kathrin Vogler (Die Linke) gehört dazu. »Es steht zu befürchten, dass sich die Lage noch verschlimmert«, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Bundestagsfraktion am Montag zu jW. Also zuvorderst für vulnerable Gruppen, »die eigentlich sicher und gut versorgt sein müssten«. Was tun? Vogler: Es brauche ein beherztes Eingreifen in die Preisbildung für Medikamente. Ein Beispiel: Die gesetzliche Krankenversicherung habe 2021 beinahe ein Sechstel ihres Gesamtetats für Arzneien ausgegeben, weiß die linke Gesundheitsexpertin. Generika machten zwar knapp 80 Prozent der medizinischen Versorgung aus, fallen bei den Kassen indes mit nur etwas mehr als sieben Prozent der Arzneimittelausgaben ins Gewicht. Während Generika wegen Rabattverträgen teils unter dem Verpackungspreis gehandelt werden, »bringen Hersteller von Markenmedikamenten ihre Produkte oft zum hundert- oder gar tausendfachen Herstellungspreis auf den Markt«. Übersetzt: Die Produktion von »Nachahmern« ist schlicht unwirtschaftlich.
Ähnlich argumentierte jüngst der progressive Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP). »Besonders versorgungswichtige oder engpassbedrohte Arzneimittel müssen in ausreichender Menge bevorratet werden«, wurde der VdPP in der Deutschen Apothekerzeitung (online) Dienstag voriger Woche zitiert. Diese Auflage sollte Teil der Zulassung sein, Zuwiderhandlungen müssten sanktioniert werden. Patienten und Krankenkassen gleichermaßen sollen zudem Schadenersatz oder Regress geltend machen können, »falls ihnen aus einem durch den Hersteller verschuldeten Engpass gesundheitliche oder finanzielle Nachteile entstehen«. Stimmt, findet Vogler. Kurzum, eine sichere und gerechte Arzneimittelversorgung dürfe nicht länger durch das Profitstreben der Pharmaindustrie oder drastische Kürzungsprogramme von Versicherern verhindert werden.
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