Bin ich Revolutionär oder Buchhalter?
Von Andreas Paul
»J. war sehr klein, in den Bewegungen linkisch und sehr kurzsichtig. Trotzdem trug er nie eine Brille. Die Stimme war sonor, das Gewicht lag auf den Konsonanten wie g, d oder w, was leicht russisch klang. Auf sein Äußeres legte er nicht den geringsten Wert. Sein Grundzug war der Pessimismus. Eines seiner letzten Worte an mich war: ›Ich bin eben ein erfolgloser Schriftsteller.‹ Er tat, als kümmere er sich nicht um Erfolg oder Misserfolg, aber das stimmte nicht. Charakteristisch war eine wegwerfende Handbewegung, als wische er Brotkrumen vom Tisch, eine Geste, die Grosz, Piscator u. a. von ihm übernommen haben.«
(Auszug aus einem Brief von Felix Gasbarra an Arnold Imhof vom 23. August 1968, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Franz-Jung-Sammlung 37)
Franz Jung, der als Autor expressionistischer und sozialkritischer Romane, Erzählungen und Dramen gilt, starb am 21. Januar 1963 um 13 Uhr im Stuttgarter Karl-Olga-Krankenhaus. Im Marbacher Restnachlass werden die Krankenhaus- und Begräbnisrechnungen verwahrt. Zur Beerdigung am 25. Januar kamen auf dem Neuen Friedhof in Stuttgart-Degerloch sehr unterschiedliche Leute zusammen: der Stadtpfarrer, der Jung nach katholischem Ritus bestattete, eine Theologin, zwei Mitglieder der verbotenen KPD, die Lektorin und Lyrikerin Elisabeth Borchers, der Lyriker Dieter Hoffmann, der Bibliothekar Paul Raabe, der Rundfunkmann und Trotzki-Biograph Artur Müller, ein Antiquar und möglicherweise auch die Schriftstellerin Susanne Leonhard.
In Stuttgart gilt Jung heute noch als »wilde Gestalt«. Spektakulär war sein Leben und besonders spektakulär die Entführung eines Schiffs von Cuxhaven nach Murmansk. Sein »Weg nach unten« wird von manchen verehrt, von einigen geschmäht. Andere suchen Antworten in seiner »Technik des Glücks«. Jung selbst laborierte an der Revolte und dem Leben im einzelnen als Teil einer ungeheuren Kraft. Auf dass sein Werk immer lebendig bleibt.
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