Längst aus Plastik: Der Strick
Von Marc Hieronimus
Alles ist politisch, Stricken noch etwas mehr als manch anderes: Sich dem Warenrummel entziehen, indem man selber macht. »Strick(en)« lässt aber nicht nur an Schals und Pullis, sondern vor allem an Tau und Seile denken. Die waren früher unentbehrlich, und zwar als Kälberstricke, Zugstränge, Leit-, Heu- und Glockenseile und als Treidelleinen, an denen man Schiffe flussaufwärts zog. Rohstoffe waren Flachs und Hanf, von denen letzterer nach Jahrtausende währendem Dienst ja erst im vergangenen Jahrhundert aus vermeintlich drogenpolitischen Gründen, tatsächlich aber als Baumwollalternative, verboten wurde.
»Der Seiler trug in seinem Schurz einen großen Schübel Flachs oder Hanf. Nun bildete er mit der Hand aus dem Flachs eine dünne Bandspitze. Diese befestigte er an einem Haken der zwei (…) Seilerböcke. Ein ›Treiber‹ musste nun an einer Kurbel drehen. Während des Drehens zog der Seiler langsam den Flachs aus seiner hochgeschlagenen Schürze, ging damit rückwärts, und der Flachs wurde durch die Drehung zum Faden oder zur Schnur. Nach einer gewünschten Länge hängte der Seiler seinen gedrehten Faden in den Haken des zweiten, gegenüberstehenden Seilerbockes.« (O. Kerscher, »Gott segne das ehrbare Handwerk«, 1987). Mit einem sogenannten Wolf drehte er dann mehrere Fäden zu einem Seil der gewünschten Dicke.
Im Freilichtmuseum ist die Arbeit noch erfahrbar. Allein, unsere petrochemische Verstrickung wird uns auch hier zum Fallstrick. Seile und Netze gibt es noch massig, aber nur noch maschinengefertigt und aus unverwüstlichem Plastik. Es ist zum Verzweifeln. »Bei der Arroganz beginnt vom ersten Augenblick das Bündnis mit dem Strick«, brachte der »Blödelbarde« Otto Waalkes einmal die damals geläufige Werbemelodie eines globalen Versicherers auf den Punkt. Denn nicht zuletzt steht der Strick auch für den Henkersknoten und anders als der Galgen für den Tod, den man selber wählt. Am Ende kehrt das Verdrängte immer zurück.
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