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Aus: Ausgabe vom 30.01.2023, Seite 15 / Politisches Buch
Kapitalistische Modernisierung

Corona als Beschleuniger

Andrea Komlosy über die »Zeitenwende« hin zum »kybernetischen Kapitalismus«
Von Gerd Bedszent
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Dominanz der Medizinwirtschaft: Labor im neuen Biontech-Produktionsstandort in Marburg (27.3.2021)

Das Verhältnis vieler Linker zu Wissenschaft und Technik war stets gespalten. Einerseits wurden technisch-medizinische Errungenschaften grundsätzlich begrüßt, andererseits damit einhergehende soziale Verwerfungen, Katastrophen und die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen kritisiert. Das Aufkommen grüner Parteien und NGOs in den 1980er Jahren resultierte unter anderem daraus, dass vielen Leuten damals bewusst wurde, dass sowohl die ungebremste Expansion »fordistischer« Massenproduktion als auch die Atomwaffen die weitere Existenz der Menschheit gefährdeten. Man blockierte damals Atommülltransporte, demonstrierte vor NATO-Stützpunkten und forderte eine gerechtere Weltwirtschaft.

Diese »grüne« Bewegung ist im Laufe der Jahrzehnte bekanntlich transformiert worden und völlig auf den Hund gekommen. In diesem Kontext ist das kürzlich erschienene Buch »Zeitenwende« der Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy (Universität Wien) zu sehen. Die Autorin – ehedem Spitzenkandidatin einer linksgrünen Splitterpartei bei den österreichischen Nationalratswahlen von 1986 – vertritt die Ansicht, dass im Windschatten des Siegeszuges von Computer- und Netztechnologie während der vergangenen Jahrzehnte eine Generation herangewachsen sei, die durch einen Glauben an unbegrenzte technologische Machbarkeit geprägt sei und deren kritisches Bewusstsein für mögliche menschenfeindliche Auswirkungen wissenschaftlich-technischer Neuentwicklungen gegen null tendiert. Im Ergebnis würde Umweltschutz weithin überhaupt nicht mehr real stattfinden, sondern lediglich mittels wohlklingender, aber letztlich nichtssagender Phrasen simuliert.

Den Philosophen Günther Anders (1902–1992) zitierend schreibt Komlosy, dass die dritte industrielle Revolution die Menschheit erstmals in die Lage versetzt habe, »ihren eigenen Untergang zu produzieren«. Der lange und völlig zu Recht von Linken bekämpfte Neoliberalismus sei neuerdings einem »Corona-Keynesianismus« gewichen. Diese Entwicklung habe mittlerweile eine Eigendynamik bekommen. Anhand von Zahlenmaterial weist Komlosy nach, dass aufgrund staatlicher Restriktionen und schuldenfinanzierter Förderprogramme die schon zuvor gravierende soziale Ungleichheit auf dem Planeten in den vergangenen Jahren geradezu explodiert ist. Einige Großkonzerne fuhren Riesengewinne ein, während die Bevölkerung mittels zunehmender auch digitaler Überwachung dirigiert worden sei. Die aktuellen wirtschaftlichen Blockbildungen und zunehmende, auch in die militärische Form übergehende Handelskriege sind für die Autorin ebenfalls Folgen dieser Entwicklung.

Für die nähere Zukunft prognostiziert Komlosy ein Zeitalter des »kybernetischen Kapitalismus« – der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dominanz von Medizinwirtschaft, Nanotechnologie, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie. Handelt es sich bei diesem Übergang zum »kybernetischen Kapitalismus« aber nun tatsächlich um die titelgebende »Zeitenwende«? Oder nur um einen Strategiewechsel innerhalb derselben kapitalistischen Gesellschaft? Schließlich war auch der historische Faschismus eine unübertroffen barbarische Variante von keynesianischem Staatsinterventionismus und damit integrierter Bestandteil kapitalistischer Modernisierungsgeschichte.

Die Autorin zitiert zwar stellenweise Marx, eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Kapitalfetisch als entscheidender Triebkraft der kapitalistischen Gesellschaft findet man bei ihr allerdings nicht. Man merkt dem Buch auch an, dass es aus mehreren ursprünglich unabhängig voneinander ausgearbeiteten Texten zusammengefügt wurde. Handelt es sich bei Komlosys »Zeitenwende« also vielleicht doch eher um eine jener Gesellschaftsdystopien, wie sie immer wieder durch die Literatur geistern? Das nun gewiss nicht – Komlosy bietet Perspektiven an, die man ernst nehmen sollte.

Andrea Komlosy: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Promedia, Wien 2022, 288 Seiten, 23 Euro

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