Faschisten an der Macht
Von Ulrich Schneider
Es ist bezeichnend, wie in der medialen Öffentlichkeit der 90. Jahrestag der Machtübertragung an die Hitler-Regierung behandelt wird. Wie Kurt Pätzold schon vor Jahren nachgewiesen hat (siehe jW vom 28.1.2023), sind die Begrifflichkeiten für dieses Ereignis auch Ausdruck der jeweiligen politischen Interpretation. Wenn man in das Begriffswirrwarr ein wenig Klarheit bringen möchte, ist es sinnvoll, sich politische Fragen zur Vorgeschichte und zur historischen Wirklichkeit der damaligen Ereignisse zu stellen. Solche Fragen zu stellen bedeutet auch, Antworten zu suchen, die der vorherrschenden Interpretation dieses historischen Ereignisses zuwiderlaufen. In diesem Sinne liefert dieser Beitrag nicht noch einmal eine detaillierte Ablaufschilderung der letzten Tage vor dem 30. Januar 1933, sondern fokussiert geschichtspolitische Eckpunkte der Entwicklung.
Reaktionärer Ausweg
In den Darstellungen über das Ende der Weimarer Republik finden sich je nach politischer Position der Verfasser verschiedene Erklärungen für den 30. Januar 1933. Eine »Standardantwort« lautet: »Wirtschaftskrise«. Unstrittig war die ökonomische Krise, verbunden mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, eine zentrale Ursache für die Destabilisierung der Weimarer Republik. Kurseinbrüche an der Börse, Firmenpleiten und Massenarbeitslosigkeit führten zu sozialer Verelendung und gesellschaftlichen Spannungen, aber ursächlich für das politische Ende der Republik und die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler waren sie nicht. Sie zeigten vielmehr, dass ein auf dem Profitprinzip beruhendes Wirtschaftssystem den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung in keiner Weise gerecht wurde.
In der Arbeiterbewegung verstärkte sich daraufhin die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen. Weil damit die revolutionären Kräfte, vorrangig in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), aber auch in kleineren sozialistischen Parteien, erstarkten, waren die herrschenden Eliten besorgt über eine mögliche politische Linksentwicklung. Sie zogen daraus die Konsequenz, einen reaktionären Ausweg aus der Krise zu suchen. Die Wirtschaftskrise liefert damit indirekt durchaus eine Erklärung für den Weg in den Faschismus, nur ist die Begründung deutlich anders zu verstehen als in den vorherrschenden bürgerlichen Geschichtsdeutungen.
Als weitere Ursache für das Scheitern der Republik wird genannt, dass die Eliten der Republik zuwenig Unterstützung für die demokratischen Prinzipien an den Tag gelegt hätten. Weimar sei eine »Republik ohne Republikaner« gewesen. In der Tat war die politische Verankerung der parlamentarischen Demokratie in den – im deutschen Kaiserreich sozialisierten – herrschenden Kreisen wenig ausgeprägt. Das hatte jedoch weniger mit dem Fehlen von Republikanern zu tun als vielmehr mit der Genese der Weimarer Republik als revolutionärem Akt gegen die Eliten des Kaiserreichs. Die bürgerlichen Kräfte, denen im Gefolge der niedergeworfenen Novemberrevolution die politische Macht zufiel, verstanden sich nicht als gesellschaftsgestaltende Akteure, sondern blieben mit den alten Strukturen eng verbunden. Sie ließen es zu bzw. beförderten teilweise sogar, dass die alten Eliten, die mit Republik und Demokratie nicht das Geringste verband, wieder in die Machtzentren von Militär, Wirtschaft und Staat aufrücken konnten. Die Republikaner »verschwanden« also nicht, sondern sie ließen den Machtzuwachs der republikfeindlichen Kräfte zu.
Im Sinne einer reaktivierten Totalitarismusdoktrin findet man heute wieder viel häufiger die Behauptung, die Weimarer Republik sei von »Extremisten von rechts und links« zerstört worden. Die Totalitarismusthese orientiert sich an Erscheinungsformen des Auftretens der politischen Gruppen, ohne jedoch auf deren Inhalte einzugehen. Als Beleg werden gemeinsame Abstimmungen von KPD und NSDAP im Reichstag über Misstrauensvoten gegen die Regierungen angeführt, so als habe es bis dahin funktionierende parlamentarische Mehrheiten und Koalitionen gegeben, die durch die »Extremisten von rechts und links« außer Kraft gesetzt worden seien.
Der wohl bekannteste »Beleg« für diese These ist der Berliner Verkehrsarbeiterstreik, der als »gemeinsame Kampfaktion von RGO (Revolutionäre Gewerkschaftsopposition der KPD) und NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation) gegen Weimar« deklariert wird. Abgesehen davon, dass sich dieser Streik gegen Lohn- und Sozialabbau richtete und gegen den Widerstand der Gewerkschaftsführung organisiert werden musste, dürfte bekannt sein, dass die NSBO gezwungen war, sich dem Streik anzuschließen, um sich in Berlin unter Teilen ihrer Anhängerschaft nicht politisch zu isolieren. Das Resultat des Streiks spricht für sich: Zum einen wurde ein – wenn auch bescheidener – sozialpolitischer Erfolg erzielt, zum anderen der politische Einfluss der NSDAP bei der Reichstagswahl wenige Tage später erkennbar zurückgedrängt.
Ein greiser Präsident?
Angeblich, so kann man lesen, sei Reichspräsident Paul von Hindenburg ein »seniler Greis« gewesen, der die politische Dimension seiner Entscheidung nicht mehr überblickt habe. Eine solche Behauptung ignoriert, dass Hindenburg – 1932 mit Unterstützung der SPD als »kleineres Übel« gegen Hitler wiedergewählt – niemals ein Anhänger der Republik war. Sein Denken war geprägt vom Mythos der »Dolchstoßlegende«, von autoritären Staatsmodellen und der Sorge, dass seine persönliche Bereicherung durch die »Osthilfe« für die Rittergutsbesitzer durch eine parlamentarische Kontrolle ruchbar werden könnte. Ihm war die Republik so wenig wert, dass er bereit war, sie seinem persönlichen Ruf zu opfern. Hindenburg war damit ein typischer Repräsentant der reaktionären Eliten des deutschen Kaiserreichs, die in der Republik wieder zu Macht und Einfluss gekommen waren und deren politische Vision die Errichtung einer autoritären Herrschaft war. Nicht umsonst hat Hindenburg nach der Ablösung der »großen Koalition« unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller das Mittel der Notverordnungspolitik zur Aushebelung der parlamentarischen Kontrolle extensiv umgesetzt.
Wie standen die wirtschaftlichen und politischen Eliten zur Weimarer Republik? Eine ernsthafte Aufarbeitung des Scheiterns der Weimarer Republik muss die Frage beantworten, wie eigentlich die gesellschaftsprägenden Kräfte zur Weimarer Demokratie standen. Wenn man nicht behaupten will, dass »Hitler ein Betriebsunfall der Geschichte« gewesen oder der 30. Januar 1933 »schicksalhaft« über Deutschland gekommen sei, muss man die gesellschaftlichen Kräfte in den Blick nehmen, die ein Interesse an einem reaktionären Ausweg aus der Krise hatten. Der Begriff des Interesses bedeutet dabei nicht, dass jedes einzelne Mitglied einer Gruppe das Gesamtinteresse ungebrochen vertreten musste, aber es war die vorherrschende Tendenz, die insbesondere von den hegemonialen Kräften vertreten wurde.
Unter dieser Einschränkung ist es unstrittig, dass eine der zentralen Gruppen mit gesellschaftlichem Einfluss, die sich allen Rechtskräften und damit auch der NSDAP sehr offen zeigte, die Reichswehr war. Obwohl auf die Weimarer Verfassung vereidigt, hatten einflussreiche Kreise des Militärs, die komplett aus der kaiserlichen Reichswehrführung stammten und im Truppenamt ihre Schaltstelle besaßen, schon Mitte der 1920er Jahre eine Strategieplanung entworfen, die von den Möglichkeiten einer aggressiven Außenpolitik zur Revision der Gebietsverluste durch den Ersten Weltkrieg ausging.
Schon zu Zeiten des Kapp-Putsches 1920 und der Hitler/Ludendorff-Aktion 1923 hatten Teile der Reichswehrführung mit den Putschisten nicht nur sympathisiert, sondern auch kooperiert. Später entwickelte die Reichswehr ein Eigenleben, das ihr einerseits Handlungsspielraum gegenüber der Reichsregierung und andererseits eine Offenheit gegenüber anderen – nicht an der Regierung beteiligten – Rechtskräften ermöglichte. Sie suchte Unterstützer für ihre militärpolitischen Optionen. Solange die aus der Regierung kamen, war das akzeptiert, als diese Unterstützung zweifelhaft zu werden schien, suchte man weitere Verbündete unter den Rechtskräften. Manche Historiker glauben, der Reichswehr ein republiktreues Verhalten unterstellen zu können, da die Führung mit der jeweiligen Reichsregierung kooperierte. Doch diese »Republiktreue« fand dort ihre Grenze, wo die Interessen der Reichswehr erkennbar in Frage gestellt wurden. Dieses Prinzip galt auch gegenüber der faschistischen Bewegung. Man grenzte sich dort ab, wo Ansprüche gegen die traditionellen Strukturen der Reichswehr formuliert wurden, etwa durch die SA oder die Brüder Strasser (»SA als neues Volksheer«, Kritik an der »reaktionären Haltung« der Reichswehrführung, die eine Adelstruppe sei, etc.). Man kooperierte dort, wo die langfristigen strategischen Optionen der Reichswehr unterstützt wurden, wie in der Harzburger Front und in dem Gespräch Hitlers mit der Reichswehrführung im Februar 1933.
Unterstützung des Kapitals
Ein ähnliches Verhältnis bewiesen die führenden Vertreter des deutschen Kapitals, der Banken, der chemischen und der Elektroindustrie. Einzig die Schwerindustrie (Eisen- und Stahlindustrie), die sich aus einer zu erwartenden Rüstungskonjunktur unmittelbaren Profit versprach, stand von Anfang an auf der Seite der NSDAP. Wie jedoch der Auftritt Hitlers vor dem Düsseldorfer Industrieklub im Januar 1932 belegt, waren auch andere Wirtschaftsgrößen sehr früh bereit, der NSDAP zu folgen. Brünings sozialpolitische Maßnahmen und die Politik der Weimarer Regierungen setzten den Unternehmen nur wenige Grenzen, jedoch fehlten ihnen Staatshilfen wie beispielsweise die Übernahme von Entwicklungskosten oder die Risikoabsicherung von Investitionen durch Bürgschaften. Auch war – trotz verheerender Wirtschaftskrise – die Gewerkschaftsbewegung immer noch so stark, dass Ziele wie Lohnabbau und Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme unter den Bedingungen der Weimarer Republik nur unzureichend umsetzbar schienen. Die Nähe zur NSDAP wurde dadurch verstärkt, dass sich – trotz aller pseudoradikalen Rhetorik – SA und andere Naziorganisationen als willfährige Werkzeuge der Unternehmensinteressen in betrieblichen und sozialen Kämpfen erwiesen. All das wurde umfangreich von der Geschichtsforschung in der DDR aufgearbeitet. Bezeichnend für die heutige Historikerzunft ist es, dass deren Forschungen und Veröffentlichungen in keiner der »etablierten« Publikationen mehr auftauchen. Mit der Ausgrenzung dieser Autoren geht auch die Eliminierung ihrer Inhalte einher. Konsequenterweise fehlt diese Perspektive in der medialen Darstellung heute völlig.
Andere gesellschaftliche Organisationen, unter ihnen große Teile der evangelischen Kirche, unterstützten die faschistischen Kräfte ebenfalls. Zwar gab man sich offiziell distanziert, gleichzeitig waren jedoch viele Pfarrer und Kirchenoffizielle beeindruckt von der »neuen gesellschaftlichen Bewegung«, in der sie »viel religiöses Wollen« glaubten feststellen zu können und von der sie sich eine Zurückdrängung des »gottlosen Bolschewismus« erhofften. Auch im damals konservativ dominierten akademischen Milieu fand die faschistische Bewegung zahllose Anhänger. Es waren weniger die akademischen Lehrer, vielmehr die Studenten und der akademische Mittelbau, die die NSDAP und ihre Untergliederungen unterstützten. Die Universitäten waren ein wichtiger Ort, an dem der gesellschaftlichen Durchsetzung der faschistischen Bewegung Vorschub geleistet wurde.
Blinder Fleck Antifaschismus
In der Mainstreamhistoriographie werden die Kräfte und Organisationen, die sich dem Vormarsch der faschistischen Bewegung schon in der Weimarer Zeit widersetzt hatten, weitgehend ausgeblendet. Wenn von ihnen überhaupt die Rede ist, dann sind es einzelne »kritische Stimmen« im bürgerlichen Lager, vielleicht noch die liberale Frankfurter Zeitung, Stellungnahmen von Politikern der Deutschen Demokratischen Partei bzw. der Deutschen Staatspartei oder einzelnen Sozialdemokraten wie Wilhelm Hoegner, dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten. Der tatsächlich geleistete Widerstand der Arbeiterbewegung in seiner ganzen Breite, besonders jener der Kommunisten, wird – wenn nicht vollständig ignoriert – mittlerweile wieder unter dem Schlagwort »Extremismusstreit« rubriziert. Dabei gelang es der von der KPD initiierten Antifaschistischen Aktion und der sozialdemokratisch orientierten Eisernen Front, in den letzten Monaten der Weimarer Republik in zentralen und dezentralen Aktionen mehrere tausend Menschen im aktiven Abwehrkampf gegen die Nazis zu mobilisieren.
In den 1980er Jahren gelang es insbesondere aufgrund des Einsatzes von Zeitzeugen aus dem antifaschistischen Widerstand, eine realistischere Sichtweise auf das Ende der Weimarer Republik in der populärgeschichtlichen Darstellung zu erreichen. Mit ihrem Ableben und der gleichzeitigen ideologischen Abwicklung früherer Forschungen der DDR-Geschichtspublizistik ist diese Perspektive weitestgehend verdrängt worden.
Dabei lässt sich die historische Tatsache nicht leugnen, dass es dem Einsatz vieler Tausender Arbeiter und Angestellter, Mitglieder der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien, die in Massenaktion und in öffentlichen Protesten gegen die NSDAP aufstanden, zu verdanken ist, dass es überhaupt gesellschaftliche Gegensignale gegeben hat. Ihre Aktionen fanden nicht erst im Herbst 1932 statt, sondern begannen lange vor dem Aufstieg der NSDAP im Jahr 1930. Gegen den Terror der SA wurden Formen des »roten Massenselbstschutzes« organisiert, Aktionen vor den Stempelstellen trugen dazu bei, Erwerbslose gegen faschistische Propaganda zu immunisieren, Großdemonstrationen setzten politische Signale gegen den Vormarsch des Faschismus.
Hinterzimmergespräche
Welche Schritte erfolgten bis zur Ernennung der Hitler-Hugenberg-Papen-Regierung am 30. Januar 1933? Schon im November 1932 hatten sich einflussreiche Fürsprecher aus Industrie, Handel und Banken in einer Eingabe an Reichspräsident Hindenburg für Adolf Hitler als Reichskanzler eingesetzt. Damals entschied sich Hindenburg zunächst noch für den Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher. Aber dessen »Querfrontstrategie« wurde von monarchistisch-reaktionären Kräften mit Skepsis betrachtet.
Als Mitte Dezember 1932 Franz von Papen im Berliner Herrenklub sein Konzept eines »Neuen Staats« präsentierte, vermittelte ihm der Vorsitzende des Kölner Herrenklubs, der Bankier Kurt Freiherr von Schröder, Mitglied des »Keppler-Kreises«, nach Rücksprache mit weiteren Vertretern der Wirtschaft ein Gespräch mit Adolf Hitler. Dieses Gespräch fand im Privathaus des Kölner Bankiers am 4. Januar 1933 statt. Diese Unterredung wird nicht zu Unrecht als »Geburtsstunde des ›Dritten Reichs‹« bezeichnet, denn hier erzielten die NSDAP und von Papen »ein prinzipielles Abkommen« über Personal und Politik einer Regierung, getragen von NSDAP, Deutschnationaler Volkspartei (DNVP) und von Papen, mit Hitler als Reichskanzler.
In den folgenden Tagen fanden weitere »Hinterzimmergespräche« statt, darunter am 17. Januar 1933 direkte Verhandlungen zwischen Hitler und Alfred Hugenberg, dem Vorsitzenden der DNVP. Hugenberg war über die »Ruhrlade«, mit der die zwölf einflussreichsten Ruhrindustriellen Gelder an politische Rechtsparteien verteilten, mit der NSDAP verbunden. Fürsprecher waren auch der ehemalige Kronprinz Wilhelm von Preußen, der Gutsherr Elard von Oldenburg-Januschau und General Werner von Blomberg.
Staatssekretär Otto Meissner berichtet, dass Vorbehalte von Oskar von Hindenburg anlässlich eines Treffens mit Adolf Hitler am 22. Januar 1933 im Hause des späteren Außenministers Joachim von Ribbentrop ausgeräumt wurden. Hitler versprach, als Reichskanzler sofort für die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen einzutreten, so dass sich ein Untersuchungsausschuss zum »Osthilfeskandal« damit erledigt hätte. Am 29. Januar verhandelte Papen mit Hugenberg und den Stahlhelm-Führern Franz Seldte und Theodor Duesterberg über die Verteilung von Ministerposten. Selbst Mitglieder des Schleicher-Kabinetts stellten sich dem neuen Hitler-Papen-Hugenberg-Kabinett zur Verfügung. Am 30. Januar 1933 stimmte schließlich auch Reichspräsident Hindenburg zu und ernannte Adolf Hitler zum Reichskanzler.
In aller Öffentlichkeit
Auffällig ist, dass sich die Aufhebung aller bürgerlichen Freiheitsrechte und die auf dieser Grundlage vollzogene Machtetablierung nicht heimlich vollzogen, sondern in aller Öffentlichkeit. Dabei war der Terror das erste Element der Machtsicherung. Schon in der Weimarer Zeit war der Straßenterror der SA gegen politisch Andersdenkende zu erleben – martialische Aufmärsche, auch Morde und andere Gewalttaten. Es waren also keine neuen Nachrichten, als ab Februar 1933 die Medien von Versammlungsverboten und Gewalt gegen politische Gegner, gegen alle Organisationen der Arbeiterbewegung sowie linke Intellektuelle berichteten. Massenverhaftungen wurden in den Medien als »Erfolgsmeldungen« gebracht, selbst die Existenz von Konzentrationslagern wurde nicht bestritten, vielmehr mit Bildern der Öffentlichkeit präsentiert.
Antisemitische Übergriffe der faschistischen Bewegung hatte es schon in der Weimarer Zeit in wachsendem Maße gegeben, selbst wenn sie oftmals verdrängt wurden. Am 1. April 1933, dem »Boykottaktionstag«, wurde die öffentliche Stigmatisierung und Ausgrenzung jüdischer Menschen und ihrer Einrichtungen »vor aller Augen« umgesetzt. Auch hier unterstützte die mediale Inszenierung die politische Wirkung der Aktion.
Zudem legalisierte die NSDAP ihre Machtsicherung mit Hilfe der juristischen Instrumente der Weimarer Verfassung, indem die gemäß der Verfassung möglichen Notverordnungen, die eigentlich als Interimsregelungen gedacht waren, dazu genutzt wurden, die Grund- und Freiheitsrechte aufzuheben, die parlamentarische Kontrolle der Regierung (mit dem »Ermächtigungsgesetz«) auszuhebeln oder mit Verwaltungsregelungen Zwangsmaßnahmen einen scheinbar legalen Anstrich zu geben. Zur Absicherung der Machtetablierung wurden schon in den ersten Monaten Hunderte Gesetze und Verwaltungsvorschriften herausgegeben, die die deutsche Gesellschaft im Sinne der faschistischen Ziele umgestalten sollten. Sinn dieser Gesetzesflut war, einerseits dem gesamten Beamten- und Verwaltungsapparat eine klare Orientierung für die Durchsetzung der faschistischen Zielvorgaben zu geben und andererseits ein Instrument zu schaffen, mögliche Gegner – basierend auf diesen Gesetzen – juristisch »korrekt« mit den Mitteln des Strafrechts verfolgen und verurteilen zu können. Man baute auf diese Weise die Justiz als effektives Werkzeug der Machtsicherung aus.
Volksgemeinschaft und Terror
Und es gab eine weitere – indirekte – Form der Machtetablierung, indem mittels der »Gleichschaltung« der Gesellschaft und einer Privilegierung der »Volksgemeinschaft« eine Einbindung der Mehrheitsgesellschaft in das Projekt des »Dritten Reichs« vollzogen wurde, die natürlich auch mit einer Form von »Belohnungssystem« verbunden war. Die »Volksgemeinschaft« blieb in jeder Hinsicht von der Befehlsstruktur der faschistischen Elite und den Mächtigen in Wirtschaft und Militär abhängig. Die Durchsetzung der faschistischen Ziele wurde über das »Führerprinzip« gewährleistet, das keine Partizipation, sondern allein eine Unterordnung der »Gefolgschaft« kannte.
Thesen nachgeborener Historiker, die – mit Blick auf das von der faschistischen Propaganda gezeichnete Bild der »Volksgemeinschaft« – von der Naziherrschaft als »Gefälligkeitsdiktatur« sprechen, einer Diktatur, die sich die Zustimmung der Volksgenossen später durch die Mittel aus dem Raubkrieg erkaufte, oder davon, das Naziregime sei eine »rassistische Volksdiktatur« gewesen, erfassen nicht die Wirklichkeit des »Dritten Reichs«. Die innere Stabilität des Herrschaftssystems wurde begründet durch Gewalt und Repression, durch die legalistische Einbindung des Verwaltungsapparates, der »nur seine Pflicht« tat, und natürlich auch durch ein Belohnungssystem. Im Verlauf des Krieges kam durch die zahllosen Kriegsverbrechen, die durchaus im Alltagsbewusstsein der Menschen präsent waren, noch der Zwang der »Tätergemeinschaft« hinzu, der eine Ablösung deutlich erschwerte.
Wer heute für das antifaschistische Vermächtnis von 1945 »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« eintritt, ist gefordert, sich mit diesen Zusammenhängen zu beschäftigen, um eine Wiederholung zu verhindern.
Ulrich Schneider ist Historiker und Bundessprecher der VVN-BdA. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. Mai 2022 über den Tag der Befreiung im Licht der »Zeitenwende«. Vom ihm erschien jüngst der Band »1933. Der Weg ins Dritte Reich. Analysen und Dokumente zur Errichtung der NS-Herrschaft«. Papyrossa-Verlag, Köln 2022, 223 Seiten, 16,90 Euro
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Die zweite Missdeutung findet sich in dem Satz: »Einzig die Schwerindustrie (Eisen- und Stahlindustrie) […] stand von Anfang an auf der Seite der NSDAP.« Es braucht doch nur an den Maschinenbauindustriellen Ernst Borsig, den Siemens Direktor Karl Burhenne, August von Finck und Kurt Schmitt von der Allianz-Versicherung erinnert werden, oder an Arnold Rechberg vom Wintershall-Konzern, dem frühen Förderer der Thule-Gesellschaft, aus der heraus die NSDAP gegründet wurde: Alles keine Vertreter der Schwerindustrie. Aber alle Repräsentanten des Monopolkapitals und als solche (!) schon früh auf der Seite der NSDAP.
Der Autor erzählt uns eine Geschichte über den Abgesang der Weimarer Demokratie. Dass er dabei mit keiner Silber die Rolle des Kapitals erwähnt, disqualifiziert ihn in meinen Augen als ernst zu nehmenden Historiker. Indem er aber mehrfach den Begriff der Machtergreifung Hitlers erwähnt und nicht den der Machtübertragung, schlägt er für sich selbst einen Bogen um die Frage, wer diejenigen waren, die Hitler auf den Stuhl des Reichskanzlers gehoben haben. Weber bietet sich auch als Ideologe an, wenn er gut dokumentierte Beweise unterschlägt, aus denen hervorgeht, dass es keine »von Moskau 1933 gezielt herbeigeführte Hungersnot« in der Ukraine gegeben habe. Aber offenbar will Weber seine wissenschaftliche Reputation dem Zeitgeist der antirussischen Berichterstattung opfern.
In der von ihm bestimmt gemiedenen Zeitung junge Welt stehen zwei Beiträge, auf die ich den Autor hinweisen will:
Kurt Pätzold: »Nomen est omen«. Dieser Beitrag erschien am 22. Februar 2013 (!), wurde in der Wochenendausgabe; am 28. Januar nachgedruckt. Und ganz aktuell dieser Beitrag von Ulrich Schneider.