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Aus: Ausgabe vom 27.01.2023, Seite 15 / Feminismus
Rollenbilder

Recht auf Alleinsein

Frauen brauchen Zeit für Selbstreflexion, um sich zu stärken und sich gegen das Patriarchat zu solidarisieren
Von Carmela Negrete
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Zu selten und nicht dem Rollenbild entsprechend: Frau allein mit sich selbst

Frauen brauchen Auszeiten und Raum, sich mit sich selbst zu beschäftigen. So einfach ist die Botschaft der Autorin und Aktivistin Sarah Diehl. Und so schwierig ist es, diese simple Idee auch im Alltag umzusetzen. Diehl hat sich für ihr Buch »Die Freiheit, allein zu sein – Eine Ermutigung«, erschienen im Arche-Verlag mit den Fragen des Alleinseins und der Einsamkeit auseinandergesetzt. Sie ist auch Aktivistin für reproduktive Rechte und hat den Berliner Verein Ciocia Basia mitbegründet, der polnische Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen unterstützt. »Unser Frauenbild beruht immer noch sehr darauf, dass Frauen für die Bedürfnisse von anderen dasein sollen«, erklärte sie diese Woche gegenüber junge Welt. Frauen sollen »für die Kinder, für den Ehemann, andere Männer oder Pflegebedürftige dasein«. Immer die Bedürfnisse anderer im Blick zu haben und über eigene Interessen zu stellen, – so werde in der Gesellschaft das richtige Frausein nahegelegt. »Das hat man auch ganz deutlich während der Coronazeit gesehen, dass es die Frauen waren, die dagewesen sind und alles organisieren mussten«, sagt Diehl.

Für Frauen mit Kindern komme noch hinzu, dass sie heute meist alles für ihre Sprösslinge organisieren sollen. »Müttern wird es ganz schwer gemacht, allein zu sein«, konstatiert Diehl, die in einem früheren Buch auch über Frauen geschrieben hat, die keine Kinder haben wollen. »Ihnen wird vermittelt, dass sie sich keine Auszeit nehmen dürfen, während Männer öfter allein sind und für sich etwas unternehmen.« Paradoxerweise vereinsamten Frauen gleichzeitig in der Familie. Jahrhundertelang seien Frauen isoliert worden, »fern vom öffentlichen Raum, wo sie gleichzeitig wenig Zeit hatten, um beispielsweise Freundeskreise zu pflegen«. Dieses Rollenbild schade Frauen, aber auch den Männern. Interessanterweise seien sie im hohen Alter öfter allein als Frauen, »und zwar, weil sie nicht gelernt haben, sich um sich selber zu kümmern«, meint Diehl.

Alleinsein als Ausdruck der individualistischen kapitalistischen Gesellschaft? Für Diehl keineswegs. Sie sieht diese Zeit der Selbstreflexion als nützlich für gemeinsame Kämpfe an. »Gutes Alleinsein, gute Vorsorge ist positiv für die Gemeinschaft, aber es wird oft dargestellt als wäre das Alleinsein etwas Egoistisches.« Mit sich selber Zeit zu verbringen, habe »etwas sehr Produktives« für die gesamte Gesellschaft: »Denn wenn man diese Bedürfnisse nicht unterdrücken muss wie im Rahmen der Leistungsgesellschaft, kann man auch die Bedürfnisse anderer leichter akzeptieren.« Sorgearbeit komme in diesem Licht eine wichtige Rolle zu, auch wenn sie Grenzen hat: »Care-Arbeit kann ökonomisch gesehen nicht effizient organisiert werden, denn ihre Beschleunigung wirkt sich negativ auf ihre Qualität aus«, schreibt Diehl. Zudem wird diese Organisierung meist von Männern erdacht, deren Frauen ihnen den Rücken freihalten.

Sie müssen sich also ermächtigen in der Frage des Alleinseins: »In unserer Gesellschaft bekommen Frauen den Wert eines begehrten Objektes für den Mann oder werden als die fürsorgende Personen gesehen.« Das blockiere und hindere sie, auf ihren eigenen Körper zu hören. »Man braucht deshalb eine Distanz zum patriarchalischen System, um sich selbst zu finden und sich wiederum mit anderen Frauen zu solidarisieren und zusammenzutun«, so die Autorin. Wie das geht, hat sie selbst auf Reisen erfahren, die sie allein unternommen hat. »Am Beispiel von Pilgern kann man beobachten, wie das Alleinsein Gutes bewirken kann«, ist sie sich sicher. »Wenn man sich auf den Weg macht, die Welt zu erkunden, findet man unterwegs immer wieder gegenseitige Hilfe.« Gerade in einer vermeintlichen Gefahrenzone, dem Alleinreisen, wo man keinen Schutz hat und auf sich allein gestellt ist, sei dies der Fall.

Sarah Diehl, Die Freiheit allein zu sein. Eine Ermutigung. Arche-Verlag, Zürich 2022, 368 S., 24 Euro

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