Erdogan bleibt zu Hause
Von Nick Brauns
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der für diesen Freitag einen Deutschlandbesuch geplant hatte, kommt nicht. Es habe keine Einigung mit dem Büro von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) über Uhrzeit und Thema gegeben, hieß es am Dienstag abend aus dem Umfeld von Erdogans Partei AKP. Offensichtlich hatte die Bundesregierung keine Lust auf den selbst eingeladenen »Arbeitsbesuch«, der als Vorwand für einen aggressiven Wahlkampf bei der türkischen Diaspora angesichts der kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei dienen sollte. Ein aus linken kurdischen und türkischen Organisationen bestehendes Bündnis hält dennoch an seiner Demonstration fest, die diesen Freitag um 13 Uhr vor dem Kanzleramt beginnen soll. Der Protest werde sich nun unter dem Motto »Schluss mit den Banden- und Spionageorganisationen« gegen die Aktivitäten von Erdogans Agenten in Deutschland richten, die die Sicherheit von Exiloppositionellen bedrohten, gab das Bündnis am Mittwoch bekannt.
Die Zahl derjenigen, die aufgrund oppositioneller politischer Aktivitäten ins Visier der türkischen Behörden geraten sind und deswegen in Deutschland Asyl beantragt haben, ist wieder deutlich angestiegen. 24.000 türkische Staatsangehörige stellten im vergangenen Jahr laut Statistik des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration (BAMF) einen Asylantrag – dreimal so viele wie 2021. Bei ihrer Asylanerkennung zeige sich allerdings ein eklatanter Unterschied zwischen Kurden und Türken, wie die rechtspolitische Sprecherin der Menschenrechtsorganisation »Pro Asyl« Wiebke Judith in der vergangenen Woche gegenüber jW erklärte: »Geflüchtete, die als kurdischstämmig im Asylverfahren registriert sind, bekommen in weniger als zehn Prozent der Fälle Schutz gewährt, andere türkische Antragsteller dagegen zu 70 Prozent.« Tatsächlich dürfte ein Großteil der türkischen Asylsuchenden der von der Bundesregierung hofierten reaktionären Gülen-Bewegung angehören, während Anhänger der kurdischen Befreiungsbewegung im Einklang mit der Türkei auch in Deutschland als Terroristen verfolgt werden.
Abgelehnte Asylsuchende müssten dabei befürchten, dass die türkischen Behörden bei ihrer Abschiebung Informationen mitgeliefert bekommen, die unter Umständen eine erneute Verfolgung in der Türkei begünstigen können. So bestätigte die Bundesregierung auf eine Anfrage der flüchtlingspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke, Clara Bünger, in der vergangenen Woche, dass den türkischen Behörden umfangreiche und teils sehr sensible Informationen etwa zum Grund der Abschiebung, dem Datum der Ersteinreise nach Deutschland sowie der Entscheidungen zur Ausreisepflicht zur Verfügung gestellt werden. Diese Informationen beträfen alleine das Verhältnis der ausreisepflichtigen Person zur Bundesrepublik, zeigte sich Bünger am Donnerstag gegenüber jW empört: »Für deren Weitergabe an die türkischen Behörden gibt es keinerlei Rechtsgrundlage«, forderte die Abgeordnete einen sofortigen Stopp der Datenübermittlung. Es müsse sichergestellt werden, dass sensible Informationen aus Asylverfahren nicht in die Hände potentieller Verfolgerstaaten geraten.
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