Blutbad in Dschenin
Von Jörg Tiedjen
Bei einer Razzia des israelischen Militärs in der Stadt Dschenin im besetzten Westjordanland sind nach palästinensischen Angaben am Donnerstag neun Menschen getötet worden. Rund 20 weitere seien verletzt worden, darunter vier schwer, wie die Palästinensische Nationalbehörde in Ramallah am selben Tag mitteilte. Es war einer der tödlichsten Militäreinsätze seit Jahren im Westjordanland.
Nach Darstellung des israelischen Militärs soll eine Armeeeinheit versucht haben, mehrere Mitglieder der Organisation »Islamischer Dschihad« festzunehmen, wie dpa meldete. Sie seien verdächtigt worden, einen Terroranschlag zu planen. Darauf seien bei einem Schusswechsel drei bewaffnete Palästinenser getroffen und vier weitere festgenommen worden. Berichte über weitere Tote würden geprüft, hieß es.
Dschenin gilt als eine Hochburg des palästinensischen Widerstands. Ein Sprecher des »Islamischen Dschihads« sagte am Donnerstag in Gaza, wo die Organisation besonders aktiv ist: »Die Standhaftigkeit und Tapferkeit des Widerstands in Dschenin ist ein klares Zeichen für das Festhalten am Recht der Verteidigung, ungeachtet der Opfer, die es fordert.« Vergangenen Sommer hatte Israels Armee eine großangelegte Militäraktion gegen die Gruppe gestartet. Nach einem dreitägigen Bombenkrieg gegen Gaza wurde eine Waffenruhe vereinbart. Mehr als 40 Menschen waren bei den Angriffen ums Leben gekommen, Hunderte wurden verletzt.
In einer Stellungnahme der im Gazastreifen regierenden islamistischen Hamas hieß es, das »Massaker in Dschenin« zeige, dass die neue, extrem rechte israelische Regierung die Gewalt gegenüber den Palästinensern eskalieren lasse. Am Montag hatte Israels Armee zugegeben, kürzlich einen Palästinenser »unnötigerweise« getötet zu haben, von dem keine Gefahr ausging, wie die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA berichtete: Demnach sei der 45jährige mehrfache Familienvater Ahmed Kahla am 15. Januar bei einer Verkehrskontrolle in der Nähe von Ramallah vor den Augen eines Sohnes mit einem Genickschuss regelrecht exekutiert worden.
In der Westbank wurde am Donnerstag zu einem Generalstreik aufgerufen. Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaja drückte den Familien der Opfer in Dschenin sein Beileid aus und rief die Weltöffentlichkeit dazu auf, »dringend einzugreifen, um die palästinensische Bevölkerung zu schützen und das Blutvergießen an Kindern, Jugendlichen und Frauen zu beenden«, wie dpa Schtaja zitierte.
Angaben des katarischen Fernsehsenders Al-Dschasira zufolge wurden im vergangenen Jahr 170 Palästinenser, darunter mindestens 30 Kinder, im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem durch die israelische Armee getötet. Diese Zahlen werden seit dem Amtsantritt der neuen israelischen Regierung im November noch überboten. Demnach kamen allein seit Beginn des Jahres mindestens 29 Palästinenser, darunter fünf Kinder, bei Einsätzen des israelischen Militärs ums Leben.
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Leserbrief von Kerstin Cademartori aus Hannover (27. Januar 2023 um 20:15 Uhr)Die Bundesregierung hüllt sich in eisiges Schweigen – im »Newsroom« des Auswärtigen Amtes bis jetzt nichts (!) dazu. U. a. hatte sich der palästinensische Botschafter Laith Arafa noch vor drei Tagen mit MdB Ralph Stegner (SPD), Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, getroffen und es ging ganz sicher um die »Zwei Staaten Lösung«? Die wird alternativlos, ungerührt und unbeirrt im Angesicht einer eskalierenden blutigen 55 Jahre währenden israelischen Besatzung von der Berliner Politik weiterhin als Monstranz vor sich her getragen. Offensichtlich blind, taub und stumm ist das offizielle Berlin im Angesicht der Eskalation durch die israelische Rechtsaußenregierung – deren Sicherheitsminister Ben Gvir gerade einen »Gaza-Krieg« einfordert (https://www.newarab.com/news/ben-gvir-calls-establishment-israeli-national-guard). So etwas nennt man ganz offen Komplizenschaft (!). A. Blinken geht auf Tour und wird Montag und Dienstag in Jerusalem und Ramallah sein – vielleicht äußert sich die deutsche Kriegsaußenministerin, die gebetsmühlenartig eine »Menschenrechtsbasierte Außenpolitik« im Munde führt, nach Blinkens Besuch? Für die vielen palästinensischen Opfer in Jenin, Ostjerusalem und im besetzten Westjordanland zu spät! Die deutsche Ampel hat nichts (!) zum Massaker in Jenin und zur Strategie von Ben Gvir und Smodrich und der israelischen Regierung zu vermelden? Ganz offensichtlich wird jetzt ohne Wenn und Aber der Blutzoll der PalästinenserInnen als Kollateralschaden für die »sichere Existenz des jüdischen demokratischen« Staates von Scholz und Baerbock eingepreist.
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