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Aus: Ausgabe vom 26.01.2023, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Kein Blick zurück

Zwischen Paris und Korea – der Spielfilm »Return to Seoul«
Von Ronald Kohl
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Setzt die Zeichen: Davy Chou

Die fünfundzwanzigjährige Frédérique Benoît (Ji-Min Park), die sich von aller Welt nur Freddie nennen lässt, ist ein sehr zerbrechliches Arschloch. Woran liegt das? Wohl kaum an ihrer Kindheit. Freddie wuchs in der französischen Provinz bei liebevollen Adoptiveltern auf. Dumm war nur, dass dieses Umfeld für ihre Intelligenz und ihre Lebensgier ein viel zu enges Korsett darstellte. Paris ist da schon eher ihre Kragenweite. Im Grunde die ganze Welt.

Ursprünglich wollte Freddie zwei Wochen Urlaub in Japan machen. Aber wegen Orkangefahr waren alle Flüge dorthin gestrichen worden, und es blieb nur Seoul als Alternative. Diese Geschichte tischt sie zumindest ihrer Familie in Frankreich auf, als sie sich nach Tagen das erste Mal aus Südkorea meldet, wo sie sich anscheinend spontan auf die Suche nach ihren biologischen Eltern begeben hat. Über ihre Motive, diesen Schritt zu gehen, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht möchte Freddie herausfinden, weshalb sie Menschen, deren Vertrauen und Sympathie sie gerade erst gewonnen hat, immer wieder aus heiterem Himmel vor den Kopf stößt. Oder von wem sie ihre Vorliebe für exzessive Partys geerbt hat. Und vor allem: Wie ist es zu erklären, dass sie im Job so überaus erfolgreich ist und niemals irgendwelche Skrupel kennt?

Als ihr Vater, den sie ziemlich rasch ausfindig machen konnte, sie fragt, womit sie ihr Geld verdient, antwortet Freddie, dass sie für einen französischen Konzern Raketen verkauft.

Der Vater und dessen neue Familie sind entsetzt: »Raketen für den Krieg?«

»Nein, für den Frieden.«

Auch wenn er den Sinn ihrer Tätigkeit nicht so ganz nachvollziehen kann und ihr meist abweisendes Verhalten ihn tief verletzt, ist der Vater doch froh, dass Freddie zurück ist. Regelmäßig ruft er sie nachts sturzbetrunken an, um ihr zu versichern, dass er den perfekten koreanischen Ehemann für sie finden wird und eine Zukunft unvorstellbaren Glücks vor ihnen allen liegt. Mit anderen Worten, Freddie wird klar, woher ihr Hang zum Feiern rührt. Alle anderen Fragen bleiben jedoch unbeantwortet, da ihre biologische Mutter sich jeder Kontaktaufnahme verweigert. Doch Freddie gibt nicht auf.

Dass der Zuschauer den verzweifelten Kampf so intensiv miterlebt, liegt nicht nur an der Perspektive des Films – von der ersten bis zur letzten Szene weichen wir der Heldin nicht einen Augenblick von der Seite. Viel wichtiger für die außergewöhnlich starke Nähe dürfte die Leidenschaft sein, mit der Regisseur Davy Chou die Story konzipiert und umgesetzt hat.

Chou, der 1983 in einem Pariser Vorort geboren wurde, besitzt selbst asiatische Wurzeln. Sein Großvater gehörte in den 60er Jahren zu den namhaftesten kambodschanischen Filmproduzenten. Im Jahr 2016 hat Davy Chou selbst einen Spielfilm in dem Land gedreht. Er weiß also, wovon er spricht, wenn er seine Heldin anfangs häufig anecken lässt. Nach und nach erlernt Freddie die Sprache und damit auch den Respekt für die neuen Regeln. So gewinnt sie Unterstützer bei der Behörde, die ihre Vermittlung an die französischen Adoptiveltern betreut hat. Von ihrem koreanischen Vater, der einer armen Fischerfamilie entstammt, weiß sie, dass ihre leibliche Mutter damals weggegangen ist, weil sie in der Stadt leben wollte.

Unter Umgehung der Vorschriften gelingt es der Adoptionsbehörde schließlich, Freddies Mutter umzustimmen. Es kommt zu einem kurzen Treffen in den Räumen des Adoptionszentrums. Freddie wird von einem Weinkrampf geschüttelt. Ihre Mutter umarmt sie und drückt ihr einen kleinen Zettel in die Hand, auf den sie ihre E-Mail-Adresse geschrieben hat.

Nach knapp einem Jahr, an ihrem Geburtstag, findet Freddie die Kraft, den Zettel aus ihrer Brieftasche zu nehmen, ihn auseinander zu falten und der Mutter ein paar Zeilen zu schreiben. Es dauert keine drei Sekunden, bis eine Reaktion erfolgt. Freddie wird mitgeteilt, dass die verwendete Anschrift nicht existiert.

»Return to Seoul«, Regie: Davy Chou, Frankreich/BRD/Südkorea u. a. 2022, 115 Min., Kinostart: heute

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