Auf den Zahn gefühlt
Von Kai Köhler
Je prachtvoller der Name, desto schäbiger das Restaurant? »Der goldene Drache« jedenfalls ist ein Thai-Vietnam-China-Imbiss, in dessen Küche fünf Köche schuften. Einer von ihnen hat entsetzliche Zahnschmerzen. Geld fehlt ebenso wie ein Aufenthaltstitel, ein Zahnarzt kommt also nicht infrage. Die Kollegen helfen, ob nun aus Mitleid oder weil der schreiende Kranke den Arbeitsablauf stört. Zum Einsatz kommt auch die gefürchtete große Zange …
Die einschlägige äsopische Fabel auch in der Version der Oper in Halle (Premiere am 21.1.): Im Sommer arbeitet die Ameise, die Grille musiziert. Im Winter hat die Ameise einen Vorrat, die Grille hungert. Also bettelt die Grille um ein wenig Essen und wird abgewiesen. Bei Schimmelpfennig und Eötvös kalkuliert die Ameise ökonomischer. Kann die Grille tanzen? Mäßig. Putzen? Bringt wenig. So endet sie als Zwangsprostituierte für andere Ameisen.
Die Bezüge zu Gefahren für heutige Migranten sind deutlich. Ebenso deutlich ist, was in die Fabel nur bedingt passt. Dass Geflüchtete grillenhaft faul seien, ist allenfalls ein rassistisches Klischee. Man arbeitet ja nicht weniger im globalen Süden, nur hat man dort den miesen Platz in der internationalen Arbeitsteilung. Als Imperialismusanalyse taugen Stück wie Oper also nur bedingt. Wichtiger aber ist, wozu sie taugen, und das ist nicht wenig.
Es fehlen jegliche Sozialromantik und Gefühligkeit. Durchgehend herrscht Verfremdung. Die Figuren berichten in der dritten Person über ihr eigenes Tun. Fünf Sängerinnen und Sänger übernehmen eine Vielzahl von Rollen. Ohne Schwachpunkt bewältigen dies Vanessa Waldhart, Yulia Sokolik, Robert Sellier, Chulhyun Kim und Andreas Beinhauer. Die Rollenzuweisung ist meist unabhängig von Alter, Geschlecht, biologischer Gattung (Mensch oder Fabeltier).
Wer Groteskes mag, bekommt allerhand geboten. Der Weg des Zahns etwa, aus dem Mund des Kochs über einen Wok bis auf den Grund der Thaisuppe – die Nummer sechs auf der Speisekarte Nummer sechs –, bestellt von einer oberflächlich menschenfreundlichen und am Ende doch gleichgültigen Kundin, ist wirklich lustig.
Der schwarze Humor verhindert nicht, dass Autor wie Komponist ihre Figuren ernst nehmen. Kehrseite des Lachens ist das Leid. Weder der junge Koch noch die Grille überleben die Handlung. Es geht auch um Verantwortung und Trauer. Im Verlauf des Stücks rückt die Fabelwelt mehr und mehr an die Menschenwelt heran. Ist die immer wieder vergewaltigte Grille jene Schwester, die der junge Koch im Auftrag seiner Familie suchen sollte?
Lachen ist eine Methode, gegenüber der Gewaltsamkeit der Verhältnisse Souveränität zurückzugewinnen. Dies relativiert den möglichen Einwand, dass die Migranten letztlich nur als Opfer erscheinen und nicht als aktiv Handelnde, die aus den bestehenden Verhältnissen etwas für sich herausholen. Jedenfalls zeigt die Oper die Logik dieser Verhältnisse. Mögen Koch und Grille an Zufällen scheitern – hinter den Zufällen steht ein System.
Das Bühnenbild von Jon Bausor verweist auf Zusammenhänge der globalen Produktion. Die Küche des »goldenen Drachens« ist nur eine Station auf einem langen Fließband. Der Verzicht auf ein naturalistisches Setting entspricht der Ästhetik der Oper. Dass Regisseurin Katharina Kastening im großen Fabrikraum den einzelnen Handlungsorten ihre Stellen klar zuweist, verdeutlicht die Abläufe trotz schneller Szenenwechsel ebenso wie ihre am musikalischen Verlauf und an den Konfliktlagen orientierte Figurenführung.
Die Videoarbeit Tal Rosners im Hintergrund nutzt Elemente des Trickfilms, um das Groteske hervorzuheben. Sie dreht und verzerrt anfangs stabile Formen. Derart lustig-abgründig passt sich das Bild in die Inszenierung ein.
Die Musik nun, von der Staatskapelle Halle unter José Miguel Esandi mustergültig dargeboten, stellt einen seltenen Fall avantgardistischer Griffigkeit dar. Eötvös verschmäht erprobte Mittel und findet eigene, die nicht nur neu sind, sondern zugleich plastisch Bühnenverläufe vermitteln. An Farbigkeit, nicht nur beim Einsatz des reichhaltigen Schlagzeugs, kann es »Der goldene Drache« mit jeder spätromantischen Partitur aufnehmen. Ostasiatische Exotismen setzt Eötvös dramaturgisch präzise ein. Die größte Stärke seiner Musik ist indes ihr theatralischer Gestus. Er verdoppelt nicht das Drama (wie bei schwachen Literaturopern), sondern macht aus ihm ein neues und eigenes Werk. Die Inszenierung in Halle vermittelt dies auf denkbar beste Weise.
Nächste Aufführungen: 28.1., 25.2. und 24.3.2023
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