Erdogan steigt in den Ring
Von Nick Brauns
Zu Wochenbeginn benannte der türkische Präsident offiziell den 14. Mai als Datum vorgezogener Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Es werde eine »Schicksalswahl«, betonte Recep Tayyip Erdogan, der die symbolische Bedeutung des Datums herausstellte: An einem 14. Mai im Jahr 1950 wurde Adnan Menderes zum Regierungschef der türkischen Republik gewählt. Erdogan hatte sich wiederholt in die Traditionslinie dieses konservativen Politikers gestellt, unter dessen Regierung Teile des auf Unabhängigkeit und Modernisierung zielenden kemalistischen Programms durch wirtschaftliche Liberalisierung, die erneute Förderung religiöser Bruderschaften sowie den NATO-Beitritt der Türkei rückgängig gemacht wurden. Die Hinrichtung des vor dem Hintergrund von wirtschaftlicher Zerrüttung und Massenprotesten durch einen Militärputsch gestürzten Menderes im Jahr 1961 dürfte dem heute 68jährigen Erdogan indessen traumatisch vor Augen stehen.
Jenseits historischer Bezüge hat die Entscheidung für den 14. Mai einen auch offiziell genannten pragmatischen Grund. Denn im Juni, wenn die Wahlen eigentlich stattfinden müssten, beginnen die Sommerferien in der Türkei, und viele Wähler sind dann urlaubsbedingt nicht mehr an ihrem Wohnort anzutreffen.
Erdogan, der seit mehr als 20 Jahren zuerst als Minister- und dann als Staatspräsident an der Spitze des Landes steht, will sich ein letztes Mal erneut um das höchste Staatsamt bewerben. Das Problem dabei: Zwar kann der Präsident vorgezogene Neuwahlen beschließen. Doch eine dritte Kandidatur zum Präsidentenamt ist laut Verfassung nur gestattet, wenn das Parlament mit Zweidrittelmehrheit die zweite Amtszeit des Präsidenten beendet und vorgezogene Neuwahlen beschließt. Erdogans islamistische AKP verfügt zusammen mit ihrer faschistischen Allianzpartnerin MHP nur über eine einfache Mehrheit. Dass noch 25 Oppositionsabgeordnete für eine solche Abstimmung gewonnen werden, ist eher unwahrscheinlich. Nach Ansicht der Regierung besteht das verfassungsrechtliche Problem allerdings gar nicht. Erdogan sei 2018 zum ersten Präsident des nach einem Verfassungsreferendum neu eingeführten Präsidialsystems gewählt worden, so dass seine erste Amtszeit ab 2014 gar nicht zähle, wird argumentiert. Dass Erdogan gestützt auf eine gleichgeschaltete Justiz auch jenseits geltender Gesetze kandidieren oder diese entsprechend hinbiegen wird, bezweifelt indessen auch bei der Opposition niemand.
Der »Sechsertisch«, ein heterogenes Bündnis aus sechs Oppositionsparteien von Sozialdemokraten bis Islamisten, hat noch keinen Präsidentschaftskandidaten benannt. Den Erstzugriff hat der Vorsitzende der kemalistischen CHP als stärkster Kraft im Bündnis. Allerdings war der seit 2010 an der Parteispitze stehende Kemal Kilicdaroglu bei Wahlen stets erfolglos. Als aussichtsreicherer Kandidat wird der gleichfalls der CHP angehörende Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, gehandelt, der allerdings kürzlich erstinstanzlich in einem politisch motivierten Beleidigungsprozess zu einer Haftstrafe mit Politikverbot verurteilt wurde.
In Meinungsumfragen liegen die AKP-MHP-Allianz und das Sechserbündnis jeweils bei rund 40 Prozent gleichauf. Damit kommt dem kleinen Bündnis für Arbeit und Freiheit, das aus der vor alle unter Kurden verankerten HDP und mehreren sozialistischen Parteien besteht, spätestens im Falle einer Stichwahl in der wahrscheinlichen zweiten Runde der Präsidentschaftswahl eine Schlüsselrolle zu. Seinen eigenen Präsidentschaftskandidaten oder seine Kandidatin will das Bündnis in dieser Woche verkünden.
Gegen die HDP, die 2018 auf 11,7 Prozent der Stimmen kam, läuft seit 2021 ein Verbotsverfahren als vermeintlich parlamentarischer Flügel der als terroristisch verfolgten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor dem Verfassungsgericht. Der als Erdogans Bulldogge agierende MHP-Führer Devlet Bahceli forderte am Dienstag auf der Fraktionssitzung seiner Partei, die HDP müsse »ohne Zeitverlust« noch vor den Wahlen dichtgemacht werden. Da ihr bereits auf einen Antrag des Generalstaatsanwaltes hin das Parteivermögen eingefroren wurde, beschloss die HDP am Dienstag auf ihrer Fraktionssitzung in Ankara, die Kampagne »Unser Volk ist unser Vermögen« zu starten. Bereits kurz nach diesem Beschluss gingen laut Nachrichtenagentur Mezopotamya News in der Parteizentrale Anrufe von Unterstützern ein. Bauarbeiter aus Izmir kündigten an, ihren Lohn für den Wahlkampf zu spenden. Anrufer aus Mardin wollen Parteifahnen herstellen. Aus Istanbul kam das Angebot, die Miete für Parteibüros zu zahlen.
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