Andere Maßstäbe
Von Matthias Rude, Tübingen
Die Stadt Tübingen hat seit 2021 eine siebenköpfige Kommission Straßennamen überprüfen lassen, die »in der Kritik« stehen. Nun liegt ein Ergebnis vor. Auf der Liste finden sich die Namen von NSDAP-Mitgliedern, Kolonialideologen, Antisemiten – und der von Clara Zetkin. Die Kommission empfiehlt, die 1985 nach der Kommunistin und Frauenrechtlerin benannte Clara-Zetkin-Straße im Stadtteil Lustnau, wo Zetkins zweiter Ehemann Friedrich Zundel ab 1927 lebte, mit einer diesbezüglichen Markierung zu versehen.
Ursprünglich hatte die Universitätsstadt eine Liste mit elf »belasteten« Straßen vorgelegt – benannt nach Faschisten. Die Kommission, die deren Biographien untersuchen sollte, weitete ihren Arbeitsauftrag selbst aus, forschte zwei Jahre lang zu allen Straßennamen der Stadt, und präsentiert in ihrem Abschlussbericht 18 Personen, die umstritten seien, »weil sie biographisch im Zusammenhang mit Antisemitismus oder Kolonialismus stehen, weil sie Mittäter oder Profiteure des NS-Regimes waren oder weil sie aus anderen Gründen heutigen gesellschaftlichen, ethischen oder politischen Maßstäben nicht mehr genügen«.
»Moralisch kritikwürdig« sei die Kommunistin, da ist die Kommission sich nach »einer intensiven wissenschaftlichen Überprüfung« einig, aufgrund »demokratiefeindlicher Äußerungen«. Weshalb dann Straßen wie die Wilhelm- oder die Bismarckstraße auf der Liste fehlen? Der Unterschied zu Wilhelm I. oder Otto von Bismarck sei, dass diese »einem nichtdemokratischen System dienten und sich gegen eine Demokratisierung dieses Systems aussprachen«, erläutert Johannes Großmann, der Leiter der Kommission, gegenüber jW. Zetkin hingegen habe »ein existierendes demokratisches System überwinden« wollen, da müssten »andere Maßstäbe angelegt werden«.
Außerdem wirft die Kommission Zetkin »Unterstützung für die Verfolgung politischer Gegner in der Sowjetunion« vor. Sie habe 1922 für »die (letztlich nicht vollstreckte) Todesstrafe gegen eine Gruppe sogenannter Sozialrevolutionäre« plädiert. Das sei »totalitär«, sie habe hier den »Übergang zur stalinistischen Verfolgungspolitik vorweg« genommen. Der Bericht beruft sich auf die vor 20 Jahren erschienene Zetkin-Biographie der Historikerin Tânia Puschnerat, die Abteilungsleiterin beim Bundesamt für Verfassungsschutz und am gemeinsamen nachrichtendienstlichen Ausbildungszentrum von BND und Verfassungsschutz in Berlin tätig war – diese sei, so Großmann, »in der Fachwelt einhellig anerkannt«. Auch ein Aufsatz mit dem Titel »Clara Zetkin und die Stalinisierung von KPD und Komintern« von dem Historiker Marcel Bois wird angeführt.
Die Kommission behauptet, Zetkin habe erst nach dem Prozess »befürwortet«, dass die Todesstrafen nicht vollstreckt wurden. Tatsächlich plädierte Zetkin in einem Brief an das Zentralkomitee der Bolschewiki dafür, bei Todesurteilen die Vollstreckung auszusetzen – »noch vor dem Spruch des Tribunals«, wie es sogar bei Puschnerat heißt. »Ich habe niemals und nirgends den Tod der angeklagten Sozialrevolutionäre gefordert«, stellte Zetkin im Herbst 1922 klar. Auch diese Aussagen finden sich in den im Bericht aufgeführten Quellen. Berücksichtigt wurden sie nicht.
Der Vorstand des Vereins, der das Clara-Zetkin-Haus in Stuttgart pflegt, zeigt sich »empört, dass sie – die Jahrzehnte für Frauenrechte und gegen Krieg und Faschismus eingetreten ist – sozusagen in einem Atemzug mit Faschisten genannt wird«. Ähnlich äußert sich die Germanistin und Zetkin-Biographin Florence Hervé gegenüber dieser Zeitung. Bei ihr wecken die Vorgänge zudem Erinnerungen »an die peinliche Umbenennung der Berliner Clara-Zetkin-Straße zugunsten einer Kurfürstin vor bald 30 Jahren, trotz internationaler Proteste«. Offensichtlich tue man sich in Deutschland schwer, die Verdienste einer kämpferischen, international bedeutenden Sozialistin anzuerkennen. »Empörend« findet sie auch, dass Zetkin im Bericht als »Protagonistin der Frauenemanzipation« im Zusammenhang mit Gertrud Bäumer genannt wird, die, während Zetkin als Alterspräsidentin des Reichstags vor der Entrechtung der Frauen im Faschismus warnte, verkündete, für die Frauenfrage sei es »vollkommen gleichgültig«, ob der Staat demokratisch oder faschistisch sei. Anders als bei Zetkin schätzt die Kommission die »Verfehlungen« Bäumers als »geringfügig« ein, so dass auf »intensivere Erforschung« verzichtet wurde.
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Leserbrief von Mag. Ing. Martin Mair aus A-8362 Söchau (25. Januar 2023 um 17:52 Uhr)Auch die Universität Tübingen hat auf einmal andere Maßstäbe und hat aus »Solidarität« mit der Ukraine die wissenschaftlichen Kooperationen mit Russland eingestellt. Eigentlich ein diskriminierender Akt, der gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 13 und 14 EMRK) verstößt. Seit wann werden Universitäten in Sippenhaftung für das genommen, was Regierungen anstellen? Gerade im Sinne der Förderung des Friedens bzw. der Opposition gegen den Krieg sollten universitäre Kontakte erst recht gepflegt werden! Diese Ausgrenzungspolitik arbeitet erst recht den Nationalisten und Kriegstreibern in Russland zu! Somit machen die Universitäten wie in den beiden Weltkriegen zuvor kostenlos die Arbeit für die Kriegstreiber im eigenen Land, betreiben wieder »geistige Mobilmachung« für Nationalismus und Krieg statt für den Frieden und Völkerverständigung! Auch die Student*innenvertretungen scheinen wieder lieber im Burgfrieden 4.0 mit den Herrschenden Kriegspropaganda zu betreiben als so wie zu meinen Studienzeiten in den 80er Jahren sich klar auf die Seite der Friedensbewegung zu stellen. https://uni-tuebingen.de/international/universitaet/solidaritaet-mit-der-ukraine/
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