Streben nach Stärke
Von Nick Brauns
Mehr Euroimperialismus wagen – so lässt sich ein Strategiepapier zusammenfassen, das der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil am Montag auf einer Pressekonferenz in Berlin vorstellte. Der Auftrag zur Ausarbeitung neuer Leitlinien für eine sozialdemokratische Außenpolitik war dem Parteivorstand schon im Dezember 2021 von den Delegierten eines SPD-Bundesparteitages erteilt worden. Doch die von Klingbeil genannten Leitfragen »Was ergibt sich aus dem 24. Februar?« und »Was bedeutet ›Zeitenwende‹ aus sozialdemokratischer Sicht?« ergaben sich erst durch den Ukrainekrieg.
Ausgearbeitet wurde das 21seitige Grundsatzpapier »Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch«, das nach parteiinterner Diskussion zu Jahresende von einem Parteitag abgesegnet werden soll, von einer Kommission Internationale Politik unter Klingbeils Leitung. Dieser gehörten unter anderem der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Rolf Mützenich, die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit Svenja Schulze und Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt sowie Vertreter der Jusos an. Olaf Scholz finde das Papier »ganz gut«, erklärte Klingbeil auf Nachfrage, für einen Hanseaten sei das ein großes Kompliment. Tatsächlich spiegelt das Dokument in weiten Teilen die politische Orientierung des Kanzlers wider.
Deutschland muss eine starke Führungsrolle einnehmen. Das ist die erste Prämisse des Papiers, das damit eine Forderung aufgreift, die Klingbeil bereits im Juni in einer Grundsatzrede bei der Friedrich-Ebert-Stiftung aufgestellt hatte. Die Voraussetzung dafür sei eigene Stärke auch im Militärischen. So bekennen sich die Sozialdemokraten zum Zwei-Prozent-Aufrüstungsziel der NATO.
Selbstkritisch wird eingestanden, dass man in den letzten Jahren nicht immer erfolgreich im Bemühen gewesen sei, eine regelbasierte Ordnung aufrechtzuerhalten. Gemeint ist nicht der Bruch der völkerrechtlich basierten Nachkriegsordnung durch den unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder begonnen Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 mit nachfolgender Separation des Kosovo. Vielmehr habe man Signale aus Russland spätestens nach der »Annexion« der Krim 2014 anders interpretieren müssen, meinen die Sozialdemokraten, die nunmehr eine 180-Grad-Wende im Verhältnis zu Russland vollziehen. Hieß es noch im SPD-Programm zur Bundestagswahl, dass Frieden in Europa nur mit Russland möglich sei, so gelte es heute Sicherheit in Europa »vor Russland« zu organisieren, erklärte Klingbeil.
Neu bewerten will die SPD auch das Verhältnis zur Volksrepublik China, die als »Partner«, »Wettbewerber« und »Systemrivale« bezeichnet wird. Eine Abkoppelung von China sei dabei keine Option. Vielmehr gelte es, Wirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren, um Abhängigkeiten zu minimieren, und China bei mancher kritischen Infrastruktur draußen zu halten.
Wenn die Hälfte der Weltbevölkerung in »autokratisch regierten Ländern« lebe, dann könne sich eine Partnerschaftspolitik nicht nur auf die Demokratien beschränken, wird festgestellt. »Auch mit schwierigen Partnern« gelte es, Gesprächskanäle etwa im Kampf gegen die Klimakrise oder für nukleare Abrüstung offenzuhalten. Das erscheint als realpolitische Abgrenzung vom geheuchelten Moralismus des Koalitionspartners Bündnis 90/Die Grünen. »Uns nahestehende« Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika gelte es durch »strategische Partnerschaften« einzubinden, so Klingbeil, – um sie von Russland und China fernzuhalten, wie dem Dokument zu entnehmen ist.
Ein »starkes und souveränes Europa«, das sich stärker als geopolitischer Akteur begreift, müsse die wichtigste Antwort auf die »Zeitenwende« sein, erklärte der SPD-Vorsitzende. Dafür gelte es auch die europäische Säule innerhalb der NATO zu stärken. Ein Argument dafür, warum Europa »eigenständiger« werden müsse, führte Klingbeil nur am Rande an: Man wisse ja nicht, wie der nächste US-Präsident heißt und ob mit ihm eine so gute Zusammenarbeit wie derzeit mit Joseph Biden möglich sei.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (24. Januar 2023 um 12:24 Uhr)Das »Zeitenwende«-Jahr 1914 lässt grüßen. Des geschlossenen Beifalls der »vaterlandslosen Gesellen« (aber dafür dem Großkapital umso bedingungsloser ergeben), zu dem imperialistischen Ersten Weltkrieg konnten sich Krupp und der Kaiser schon damals gewiss sein. Dieser Tradition – der einzigen(!) – ist die SPD bis heute uneingeschränkt »treu« geblieben. Und so lautet denn auch heute wie schon damals die Pateiparole: »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ …« in die Massengäber wieder …
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Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (23. Januar 2023 um 23:33 Uhr)Das Reich zerfiel, doch die Reichen, die Förderer und Nutznießer des Hitlerfaschismus blieben, so dass Brechts Ausspruch »der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch« nach wie vor seine Gültigkeit hat. Doch es wäre zu kurz gegriffen, wollte man deutschen Größenwahn, seine notorische Großmannssucht, erst bei der Naziherrschaft ansetzen. Bereits zu Kaiser Wilhelms Zeiten waren die Herrschenden Deutschlands intensiv dabei, Weltherrschaft zu erringen, sich einen Platz an der Sonne zu ergattern, all das mit dem Credo: »am deutschen Wesen, soll die Welt genesen«. Warum sollte das jetzt anders sein, seit es doch die Herrschaft der multinationalen Konzerne gibt, also seit Kaiser W. Zeiten, besteht dieser Drang. Er wurde lediglich durch die beiden Kriegsniederlagen zeitweilig in den Hintergrund gedrängt, doch nun ist der Flaschengeist endgültig seiner vorherigen Flasche entwichen, so dass der militaristische »Tanz« von neuem sich ein Stelldichein gibt. Dabei geht es u. a. auch darum, die Scharte der beiden Kriegsniederlagen auszuwetzen, nun doch noch als Sieger der Geschichte aufzutrumpfen. Dabei gilt folgende »Formel«: Je mächtiger die Ökonomie dieses Landes, desto aggressiver seine Politik, desto zuchtmeisterlicher sein Gebaren. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten wird hierbei wie selbstverständlich in Anspruch genommen, dies aus Machthunger, als auch sich auf den höheren Zinnen einer lauteren Moral wähnend, über die andere Nationen in der Wucht angeblich nicht verfügen. Die Folge: der deutsche Staat sieht sich so berechtigt, maßregelnd mit ins Weltgeschehen einzugreifen. Nur ein paar saftige Niederlagen können da diesen entfesselten Staat noch bremsen.
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