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Aus: Ausgabe vom 18.01.2023, Seite 10 / Feuilleton
Rosa-Luxemburg-Konferenz

Das allein ist unschätzbar

Die Weltpremiere des Dokumentarfilms »Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge« im Berliner Kino Babylon
Von Stefan Siegert
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»Die Liberalen, die ihren Rassismus und Kolonialismus hinter kostenfreien Wortwolken verbergen, sind die Schlimmsten« – Graswurzelaktivistin Jacqueline »Jackie« Walke im Gespräch mit jW-Chefredakteur Stefan Huth

Es war eine Welturaufführung. Aber dass sie nun am Sonntag in Berlin als passender Epilog einer großartigen XXVIII. Rosa-­Luxemburg-Konferenz gerade von der einzigen marxistischen Tageszeitung des Landes zu Wege gebracht wurde, war wohl ein glücklicher Zufall. Denn zur Freiheitlichkeit der Demokratie auch des Vereinigten Königreichs gehört es nun mal, Filmen wie »Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge« maximal viele Steine in den Weg zu legen, bevor sie, wenn überhaupt, erscheinen dürfen. So war es die junge Welt, die die Dokumentation über die Kampagne gegen Jeremy Corbyn als Weltpremiere zeigen konnte, wie Chefredakteur Stefan Huth eingangs berichtete. Dass der Film von Regisseur Chris Reeves am Folgetag der Konferenz über die Leinwand des Kino Babylon und direkt in die Köpfe und Herzen eines aufgeklärten Berliner Publikums gehen konnte, war auch den in Rekordzeit und Nachtarbeit bearbeiteten deutschen Untertiteln Susann Witt-Stahls zu verdanken. Der Saal war prallvoll, ausverkauft.

Das schwierigste Terrain

Ein Film wie ein sanftes Gewitter. Bilder von den begeisternden Auftritten Jeremy Corbyns vor den Massen überwiegend jugendlicher Labour-Anhänger. Der fast lebenslange linke Hinterbänkler hatte mit der Losung »For the Many, Not the Few« (Für die Vielen, nicht die Wenigen) die Sache mit der Demokratie auf den Punkt gebracht. Bilder und Worte von einer Authentizität, von der bürgerliche Politiker nur träumen können. Zum Nachdenken zwischendrin besonnene, humorvoll-realistische Kommentare britischer Linker, unter ihnen Ken Loach, der Vater des Films der britischen Arbeiterklasse.

Eine aus dieser Reihe, die Graswurzelaktivistin Jackie Walker, antwortete nach der Filmvorführung live auf Huths Fragen. Sie beschwerte sich lachend, Fragen solcher Art bedürften Stunden der Antwort, aber sie wolle es versuchen, sich kurz zu fassen. Die schwarze Engländerin jüdischer Abkunft, langjähriges Mitglied von Jewish Voice for Labour, sprach aus Erfahrung auch über Jeremy Corbyns entscheidenden Fehler im Schlamm-Tsunami, den die freiheitliche Presse, die vereinigte Rechte, mittendrin der Labourpolitiker Keir Starmer und die City of London, gegen ihn entfachten: Auf dem zurzeit immer noch schwierigsten Terrain propagandistischen Klassenkampfs, dem Antisemitismus, entschuldigte sich Corbyn für seine Solidarität mit dem palästinensischen Volk. »Wer angegriffen wird«, sagte dazu Jackie Walker mit geradezu revolutionärer Gelassenheit, »darf sich nicht entschuldigen; er muss zurückschlagen«.

Auch an anderer Stelle gab es für die deutsche Linke zu lernen. »Was wäre geschehen«, fragte Huth, »wäre mit Corbyn in einem imperialistischen Hauptland ein NATO-Gegner an die Regierung gekommen?« Walker erläuterte anhand von Zitaten britischer Militärs, dass jenes Gebilde, das sich notorisch »freiheitliche Demokratie« nennt, in dem Moment, da jemand die rote Linie eines Systemwechsels ansteuert, sich seines Demokratiefummels leichterhand entledigt und offen staatsterroristisch mit einem Putsch reagiert.

Ohne den Unterhaltungswert der Veranstaltung bewusst steigern zu wollen, fragte Huth auch nach der Rolle der britischen Tageszeitung The Guardian in dieser Angelegenheit. Man hat im Babylon einen Menschen auf eine Frage wohl selten derart herzhaft lachen sehen. »Nicht die Rassisten und offenen Kolonialisten sind die Schlimmsten«, antwortete Walker, »bei denen weiß man wenigstens, woran man ist – die Liberalen, die ihren Rassismus und Kolonialismus hinter kostenfreien Wortwolken verbergen, sind die Schlimmsten«. Was Jeremy Corbyn anginge: Er sei kein Revolutionär und kein Marxist – aber ein Mensch, der ohne Wenn und Aber konsequent gegen den Krieg einstehe. Das allein sei unschätzbar viel.

Bei der Wahrheit bleiben

Unerfreulich und von Jackie Walker im nachhinein als Symptom der gegenwärtigen Schwäche der Linken gedeutet: dass jemand sich das Saalmikrofon reichen ließ, um statt einer Frage versuchsweise das an diesem Nachmittag nicht gefragte Thema Covid in den Mittelpunkt zu rücken. Was ist eigentlich an »Disziplin« so übel, möchte man da in die Richtung fragen, wo einmal die Linke war.

In Antwort auf Susann Witt-Stahls letzte Frage, was wir in der BRD aus dem vorläufigen Scheitern Jeremy Corbyns und seiner Ideen lernen könnten und was uns zu tun bleibe in der Situation, in der wir selbst sind, erinnerte Walker daran, dass wir am Ende keine andere Wahl hätten, als bei der Wahrheit zu bleiben. Der Zeitpunkt, da sie wieder verfängt, könnte nicht gar so fern sein. Bei der Wahrheit bleiben, wenn ich Jackie Walkers weiches Englisch richtig verstanden habe, mit Geduld und leise, wenn’s geht – das war ein gutes Schlusswort am Ende eines Nachmittags voller wichtiger Eindrücke.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (19. Januar 2023 um 10:45 Uhr)
    Zur Frage: »Was wäre geschehen ...?«: Jeremy Corbyn, Ece Temelkuran und Yanis Varoufakis: Athener Deklaration zum Ukraine-Krieg, 13. Mai 2022 (gruene-linke.de/2022/05/16/jeremy-corbyn-ece-temelkuran-yanis-varoufakis-athener-deklaration-zum-ukraine-krieg). Quintessenz der Deklaration: Es findet ein Krieg gegen die Ukraine statt, nicht gegen Russland. Kein Wort über den seit 2014 andauernden Krieg gegen die Bevölkerung des Donbass. NATO-Osterweiterung? Nie gehört. Eine durchaus NATO-kompatible Erklärung. Das unterschreibt jemand, der zu dem Zeitpunkt weder Vorsitzender einer großen Partei noch in Regierungsverantwortung ist.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (18. Januar 2023 um 10:03 Uhr)
    »Was wäre geschehen«, fragte Huth, »wäre mit Corbyn in einem imperialistischen Hauptland ein NATO-Gegner an die Regierung gekommen?« Corbyn wäre umgefallen, so wie er schon beim Brexit wankelmütig war und sich nicht von der EU trennen konnte. Wobei sich die Frage stellt, ob das wirklich ein Umfallen gewesen wäre. »Auf die Frage von Sky News nach Corbyns angeblichem Widerstand gegen die NATO erklärte Starmer am Freitag: ›Die Labour Party hat bei ihrer Unterstützung für die NATO nie geschwankt … die Politik der Labour Party hat sich unter seiner Führung nie geändert.‹« (https://www.wsws.org/de/articles/2022/03/03/mkac-m03.html, 3. März 2022). Interview mit Corbyn, griechische Tageszeitung TA NEA: »Wie stehen Sie zur russischen Invasion in der Ukraine?« Corbyn: »Ich verurteile den Einmarsch Russlands in die Ukraine auf das Schärfste. Er ist nicht zu rechtfertigen.(…) unter denen Putin seine mörderische und törichte Entscheidung getroffen hat, in die Ukraine einzufallen.« Zur Kampagne des Westens gegen Syrien wegen eines angeblichen Giftgaseinsatzes syrischer Truppen: »Merkel hat keine Zweifel am Giftgaseinsatz in Duma« (Spiegel 10.04.2018) »Viel weise darauf hin, so Corbyn weiter, dass das Regime von Baschar al-Assad für den Chemiewaffeneinsatz von Duma verantwortlich war. Der Labour-Chef sprach sich dafür aus, den Inspektoren der Institution zur Ächtung von Chemiewaffen OPCW rasch Zugang nach Duma zu verschaffen, ›mit nachdrücklichem diplomatischen Druck auf Russland und Syrien‹.« (FR 16.04.2018 Aktualisiert: 06.01.2019) Oh, Jeremy Corbyn: Die große Legende.

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