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Aus: Ausgabe vom 23.01.2023, Seite 2 / Inland
Polizeigewalt

»Wir zeigen, dass das nicht nur Einzelfälle sind«

In Bochum wird eine Ausstellung mit Recherchen zu Todesfällen bei Polizeieinsätzen gezeigt. Ein Gespräch mit Tarek Bertrand
Interview: Gitta Düperthal
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Gedenkstätte für den erschossenen senegalesischen Jugendlichen in Dortmund (27.9.2022)

Auf einem der Plakate zur Ausstellung »Polizei tötet« in Bochum, die seit Donnerstag und noch bis zum 29. Januar gezeigt wird, steht die Frage: Warum sind 2022 in Deutschland 30 Menschen bei Polizeieinsätzen gestorben? Gibt Ihre Ausstellung eine Antwort darauf?

Vor allem müssen wir konstatieren, dass die Polizei keine Antworten auf diese Frage gibt. Eine öffentliche Liste seitens der Polizei zu Todesfällen im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen existiert nicht. Das ist aber dringend erforderlich. Unsere auf den Plakaten gezeigten Rechercheergebnisse zu 30 Todesfällen im Jahr 2022 stellen einen Versuch dar, diese Informationslücke zu schließen. Wir fordern Aufklärung und Transparenz. Es darf nicht sein, dass die Polizei jegliche Verantwortung dafür ablehnt. Kommt die Rede auf diese Fälle, wird meist darauf verwiesen, dass es sich angeblich um Notwehr gehandelt habe. Auffällig ist aber das Muster, dass im Jahr 2022 Menschen bei Polizeieinsätzen sterben mussten, die sowieso von verschiedenen Arten der Diskriminierung betroffen waren: sei es rassistische Stigmatisierung oder dass sie arm, obdachlos oder psychisch erkrankt waren. Solange nicht zweifelsfrei geklärt ist, dass diese Menschen auch ohne polizeiliche Handlung gestorben wären, kann die Polizei sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Deshalb weisen wir mit Plakaten in unserer »Schaufensterausstellung« in Bochum auf einzelne Fälle hin.

Wie kommt es, dass hierbei in vielen Fällen die Namen der Menschen fehlen, die bei Polizeieinsätzen ihr Leben verloren haben?

Wir können nur darstellen, was unsere Quellen jeweils beschreiben: etwa Pressemitteilungen der Polizei, Meldungen oder Berichte von Lokalzeitungen oder Beiträge von Initiativen, die sich gegründet haben, um auf Opfer von Polizeigewalt aufmerksam zu machen. In einigen Fällen ist viel bekannt, in anderen wenig. Gerade die Polizei veröffentlicht oft keine Namen, sie werden meist nur durch Recherchen von Medien oder Initiativen bekannt. Wichtig ist auch, ob die Angehörigen mit der Veröffentlichung einverstanden sind.

Können Sie ein besonders drastisches Beispiel benennen?

Alle Fälle sind drastisch. Besonderes Aufsehen erregte der Fall von Mouhamed Lamine Dramé aus dem Senegal, der Anfang August 2022 bei einem Polizeieinsatz in der Dortmunder Nordstadt erschossen wurde. Zunächst hieß es, er habe die Polizei mit einem Messer angegriffen. Im nachhinein wurde bekannt, dass Mouhamed in einem Hinterhof kauerte und sich erst in die Richtung der Polizei bewegte, als er mit Taser und Pfefferspray angegriffen wurde. Sofort erfolgten fünf Schüsse auf ihn. An diesem Fall kann man sehen, dass die offizielle Darstellung der Dortmunder Polizei, es sei Notwehr gewesen, vermutlich nicht stimmt. Wie so oft wird nur durch Druck von unten, durch nähere Recherche der Presse und von Initiativen Genaueres bekannt. In vielen Fällen aber gibt es nur Polizeiberichte und keine andere Perspektive auf einen Fall. Spätestens seit Oury Jalloh, der 2005 in einer Zelle im Dessauer Polizeirevier verbrannte, wissen wir auch, dass mit dem Justizsystem etwas nicht stimmt. Der Polizei wird stets mehr geglaubt als anderen, auch wenn es noch so viele Widersprüchlichkeiten gibt.

Was wollen Sie mit Ihrer Ausstellung erreichen?

Wir wollen aufzeigen, dass es nicht nur Einzelfälle sind, sondern dahinter ein strukturelles Problem der Polizei steht. Diese Institution verweigert sich jeglicher Aufklärung. Da ist es nicht mit der Feststellung getan, dass Polizisten stärker sensibilisiert oder ausgebildet werden müssten. Lange schon wird gefordert, dass die Polizei nicht gegen sich selbst ermitteln kann, dass es für solche Fälle eine unabhängige Beschwerdestelle geben muss. Wir können es nicht mehr hinnehmen, dass gerade ohnehin benachteiligte Menschen stärker von Polizeigewalt betroffen werden. Diese Taten müssen Konsequenzen haben.

Tarek Bertrand ist Sprecher der Initiative »Tode bei Polizeieinsätzen aufklären«

Die Schaufensterausstellung »Polizei tötet« wird noch bis zum Sonntag im Atelier Automatique, Rottstraße 14, Bochum gezeigt

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