»… nicht einmal eine Andeutung des Themas Entschädigung«

Betroffene der Berufsverbote nahmen am Freitag Stellung zu Aussagen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen). Dieser hatte sich tags zuvor für den »Radikalenerlass« entschuldigt:
Die Initiativgruppe begrüßt es, dass Ministerpräsident Kretschmann sich endlich öffentlich äußert zum Thema Umgang mit den Betroffenen des Radikalenerlasses von 1972 in Baden-Württemberg und gleichzeitig zu einem Gespräch mit Betroffenen einlädt. Damit reagiert der Ministerpräsident auf unsere jahrelangen Bemühungen: Seit 2012 fordern wir die Landesregierungen von Baden-Württemberg auf, Entschuldigung, Rehabilitierung und Entschädigungen von Berufsverbote-Betroffenen auf den Weg zu bringen.
Der nun vorliegende Offene Brief des Ministerpräsidenten enthält jedoch keine Entschuldigung bei den Betroffenen, keine Rehabilitierung, nicht einmal eine Andeutung des Themas Entschädigung. Er betont im Gegenteil, dass etlichen ganz recht geschehen sei. Im Gegenteil stellt er aber eine unhaltbare Behauptung auf: »Anschuldigungen« sei damals »nachgegangen« worden, »wo wirklich belastbare Erkenntnisse über gravierende verfassungsfeindliche Aktivitäten vorlagen. Denn Verfassungsfeinde haben im öffentlichen Dienst – und vor allem auch in seinen erzieherischen und sicherheitsrelevanten Bereichen nichts verloren.«
Mit dieser Formulierung wird der Anschein erweckt, es hätte bei vom damaligen Radikalenerlass Betroffenen in diesen Bereichen unprofessionelles oder außerdienstliches Fehlverhalten vorgelegen. Einen solchen Fall hat es aber nicht gegeben. Eine solche Spaltung der Betroffenen in »Gute« und »Böse« können wir nicht akzeptieren. Wenn Herr Kretschmann also sagt, »einzelne mögen dann zu Recht sanktioniert worden sein, manche aber eben auch nicht« und es sei nur in »manchen« Fällen das »Augenmaß« verloren gegangen, liegt er falsch. Denn andererseits konstatiert er selbst (auf S. 4 seines Offenen Briefes), dass »die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) festgestellt (hat), dass der Radikalenerlass gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt«.
Kretschmann gibt sowohl den Inhalt der ILO-Untersuchung falsch wieder, als auch den der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas durch die Heidelberger Studie, die vom Wissenschaftsministerium beauftragt worden ist und seit Mai 2022 vorliegt: »Verfassungsfeinde im Land? Der ›Radikalenerlass‹ von 1972 in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik«. Denn auch diese kommt zu dem Schluss, dass generell Unrecht geschehen ist und bestätigt damit die umfangreichen Untersuchungen der Internationalen Arbeitsorganisation von 1986.
Wenn »der freiheitlich-demokratische Staat (…) sich seiner Feinde erwehren« und »immer auch auf die Verhältnismäßigkeit seines Handelns achten«, Augenmaß und einen guten Sinn für Angemessenheit« wahren wollte, wie den Berufsverbote-Betroffenen mitgeteilt wird, hätte er nicht zu dem Mittel der beruflichen Diskriminierung greifen dürfen. Vielmehr muss er sich immer an seine eigene Verfassung (das Grundgesetz) und an seine eigenen Gesetze halten, die mit den Normen des Völkerrechts im Einklang stehen müssen.
Die von uns erbetene und zeitgleich ausgesprochene Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit den Betroffenen nehmen wir dankend an. Wir erwarten dann allerdings, dass bei unseren weitergehenden Forderungen nach Entschuldigung, Rehabilitierung und Entschädigung spürbare Fortschritte erzielt werden können. Wir haben nicht mehr viel Zeit …
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Leserbrief von Armin Christ aus Löwenberger Land (21. Januar 2023 um 09:56 Uhr)In den 1970er Jahren habe ich mehrfach von Maoisten diese Meinung, die dieser Kretschmann (früher KBW) teilt, gehört. Nämlich, dass die DKPler zu Recht mit Berufsverbot belegt werden. Also da bleibt er seiner damaligen Gesinnung treu.
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