»Die Brutalität der Polizei hat uns erschüttert«
Interview: Henning von Stoltzenberg
Am vergangenen Wochenende sind mehrere Klimaaktivisten in Lützerath von der Polizei verletzt worden. Die Demosanitäterinnen und -sanitätern waren rund um die Uhr im Einsatz. Wie sieht Ihre Arbeit im allgemeinen aus?
Wir bieten qualifizierte medizinische Erstversorgung für alle Verletzten an, die im Rahmen von Demonstrationen Hilfe benötigen. Im Kontrast zum regulären Rettungsdienst sind wir bei Protesten oder in Camps bereits vor Ort. Wir arbeiten ehrenamtlich und behandeln Patientinnen und Patienten anonym. Das bedeutet, dass nur die Informationen erhoben werden, die für die medizinische Behandlung absolut notwendig sind.
Für die Demonstration am vergangenen Samstag mit 35.000 Teilnehmenden standen wir mit einem Team von 49 qualifizierten Sanitäterinnen und Sanitätern bereit, darunter zwölf Ärztinnen und Ärzte. Sie bildeten 18 mobile Teams, die den Demonstrationszug begleiteten und sodann drei stationäre Behandlungsplätze einrichteten.
Während der Großdemonstration gegen das Abbaggern des Ortes im Rheinischen Braunkohlerevier kam es mehrfach zu Polizeigewalt gegen Demonstrierende. Was können Sie dazu sagen?
Als Sanis geben wir keine genauen Verletztenzahlen heraus – auch, um die Repressionsgefahr durch Rückverfolgung zu minimieren. Ich kann aber sagen, dass es mehrere Schwerverletzte gab und zahlreiche Patientinnen und Patienten zur weiteren Behandlung ins Krankenhaus transportiert werden mussten. Durch die Vielzahl an gleichzeitig Verletzten mussten sie zur Aufteilung der verfügbaren Rettungsmittel triagiert werden.
Es gab zwei Personen, deren Verletzungen wir vor Ort nach allen medizinischen Standards als potentiell lebensbedrohlich einschätzen mussten. Mit den im Krankenhaus verfügbaren diagnostischen Möglichkeiten kann diese Einschätzung später anders ausgefallen sein.
Wie verhält es sich mit der Schweigepflicht von Sanis und Krankenhäusern?
Die Schweigepflicht des behandelnden Personals ist seit über 2.000 Jahren die unabdingbare Grundlage für eine vertrauensvolle und gute Behandlung. Bei anderen Demonstrationen haben wir mehrfach erlebt, dass diese Schweigepflicht seitens der behandelnden Krankenhäuser gebrochen wurde und etwa Personalien oder gar Entlassbriefe an die Polizei weitergegeben wurden.
Die Polizei geht grundsätzlich davon aus, dass von der Polizei verletzte Aktivistinnen und Aktivisten ihre Anweisungen missachtet hätten, die Anwendung körperlichen Zwangs also verhältnismäßig gewesen sei. Häufig werden sie wegen »Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte« angezeigt. In dieser Logik gibt es keine anlasslose Polizeigewalt, wie wir sie am Samstag mehrfach gesehen haben.
Handelt es sich um eine neue Qualität von Polizeigewalt?
Trotz ausgiebiger Vorbereitung unseres Einsatzes und der teils langjährigen Erfahrung unserer Sanis waren wir überrascht und erschüttert von der Brutalität und enthemmten Gewalt, die wir von Polizistinnen und Polizisten gegenüber Demonstrierenden gesehen haben. Das zeigt sich etwa an den unerwartet vielen Verletzungen von Kopf und Thorax: Hier wurde gezielt versucht, schwere und schwerste Verletzungen zuzufügen. Es braucht keine medizinische Expertise, um zu erkennen, dass Kopf- und Gesichtsverletzungen unter Umständen dramatische Folgen für das weitere Leben der Betroffenen haben können und somit absolut unverhältnismäßig sind. Es ist schockierend, dass gerade diejenigen, die sich der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen entgegenstellen, kriminalisiert und verprügelt werden.
Wurde Ihre Arbeit bei der Versorgung von Demonstrierenden durch die Polizeikräfte eingeschränkt?
Ja. Teilweise wurde unser Personal nicht zu Verletzten durchgelassen. In einigen Fällen wurde es von der Polizei herumgeschubst.
Wie war es in Lützerath selbst: Konnten Sie dort in den Tagen zuvor Verletzte ungehindert versorgen?
Am 11. Januar waren wir als Demosanis aus Lützerath verwiesen worden und durften das Dorf danach nicht mehr betreten. Die Ereignisse zeigen aber, dass es richtig und wichtig war, als Demosanis vor Ort im Einsatz gewesen zu sein.
Iza Hofmann ist Demosanitäterin
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (21. Januar 2023 um 08:55 Uhr)Das Vorgehen der Polizei bei der Großdemonstration gegen die Räumung von Lützrath illustriert eindrucksvoll: Die wie eine Monstranz vor der »demokratischen Gesellschaft« hergetragenen Rechte der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit enden regelmäßig dort, wo sie das Goldene Kalb des Kapitalismus, das Eigentum an den Produktionsmitteln, berühren. Dann ist alles erlaubt. Allerdings nur den »Hütern der Ordnung«. Der Rest hat einfach nur die Schnauze zu halten und zu verschwinden.
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