Radiolegende im Originalton
Von Pierre Deason-Tomory
Wer als Sportreporter oder Moderator die Ehre hat, von Jürgen Roth kritisiert zu werden, wird meist die Ohren anlegen. Liegt wohl am Gegenstand der Beschreibung und nicht unbedingt am Rothschen Blutdurst. Dass er einen Mikrophonisten auch loben, ja sogar preisen kann, haben vor eineinhalb Jahren die Leser seiner Günther-Koch-Biographie »Wir melden uns vom Abgrund« (Antje Kunstmann, München) feststellen können. Inzwischen kann man das auch hören. Der Oktober-Verlag aus Münster hat unlängst Roths Feature »Wir rufen Nürnberg«, das er 2021 für den Deutschlandfunk produziert hat, mit Gänsehaut erregenden Originaltoncollagen angereichert als Hörbuch herausgebracht.
Roth, dem Olaf Oelstrom seine Stimme geliehen hat, erzählt die Geschichte der inzwischen 81jährigen Reporterlegende Koch, lässt Kollegen und Fans zu Wort kommen und vor allem ihn selbst. Hier mit der letzten Einblendung, die ich live von ihm gehört habe, im Club-Fanradio zum Heimspiel des FCN gegen den FCB im April 2019. Die Franken bekommen kurz vor Schluss beim Stand von 1:1 einen Strafstoß: »Sollte der Club mal Glück haben, sollten die Bayern mal Pech haben mit einer Elfmeterentscheidung?« (Gebrüll im Stadion.) »Nein, nein, das ist der Club, ich halt des nicht aus. Liebe Freunde, das passiert nur dem Club. Wollder wissen, wo er hin geschossen hat? An den Pfosten rechts unten. Ich säg ihn ab, diesen Pfosten.«
Dieser Ausschnitt exempelt gleich mehrere Besonderheiten eines Reporters, den es nur einmal geben durfte. Koch war Hörbildmaler, parteiisch, Clubfan und irre. »Ganz anders als die anderen! Der brachte einen Drive in die Konferenzreportage«, hören wir den Literaturwissenschaftler Helmut Böttiger schwärmen, der Koch schon 1987 auf einer ganzen Seite in der Zeit besungen hat. Er lobt besonders seine barocken Adjektive, die Worterfindungen, die Theatralik und dass Koch auch versucht habe, objektiv zu sein, aber: »Seine Form der Objektivität war eben eine sehr subjektive.«
Koch selbst weist im Gespräch mit Roth jedes Bemühen um die preußischen Sekundärtugenden des Sportansagers von sich: »Des is ja lätschert, des kann i a nachlesen«, sagt er in seiner bairisch-fränkischen Mischmundart, die außer ihm beim Bayerischen Rundfunk keinem erlaubt war. Es bleibt ein nicht gelöstes Rätsel, warum der Ultraextrovertierte jahrzehntelang Regeln brechend beim BR überleben konnte. Und deshalb immer noch da war, als die Fußballreportage im Radio in den Neunzigern ihre wohl letzte Hochzeit erlebte, weil unsere Wirtschaftsordnung die Champions League ins Pay-TV gesperrt hatte. Als man nicht aus dem Wagen aussteigen konnte, obwohl schon am Ziel angekommen, weil unbedingt im Autoradio weiter das Spiel gehört werden musste.
Bilder, die im Kopf von Fans mit niedriger Seriennummer wiedererscheinen beim Hören der CD, für die der Roth beim Sichten und Montieren der Originaltöne Jahre im Keller zugebracht haben muss. Ergebnis ist das Audiostandardwerk über einen besonderen Moment gleichzeitig der Fußball- und der Radiogeschichte, das in den Lehrmittelkoffer eines jeden Ausbilders gehört. Damit der Hörfunkeleve mit dem Handwerk nicht nur die Regeln lerne, sondern auch, sie zu beherrschen und zu brechen, um die Radiokunst ins Recht zu setzen.
Jürgen Roth: Wir rufen Nürnberg! Auf den Spuren der Reporterlegende Günther Koch. Hörbuch als Digipack-CD (Laufzeit: 75:19 Minuten). Oktober-Verlag, Münster 2022, 17 Euro
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vom 20.01.2023