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Aus: Ausgabe vom 20.01.2023, Seite 15 / Feminismus
Schottland vs. England

Auf dem Rücken von trans Menschen

London stoppt schottisches Geschlechtsanerkennungsgesetz. Gründe fadenscheinig
Von Dieter Reinisch
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Fühlen sich als »Sündenbock« für Londons Bestreben, Schottland einzuhegen: Demonstration für Transrechte am Mittwoch

London hat am Mittwoch ein progressives Gesetz Schottlands zum Geschlechtseintrag blockiert und dadurch einen neuen Streit mit Edinburgh ausgelöst. Der wird auf dem Rücken von trans Personen ausgetragen. Für London könnte sich der Schritt als Pyrrhussieg herausstellen, denn der direkte Eingriff in schottische Gesetzgebung ist Wasser auf die Mühlen der Unabhängigkeitsbefürworter. Und auch in Nordirland wird nun offen ein neues Gesetz zum Geschlechtseintrag diskutiert.

Am 22. Dezember hatte das schottische Parlament für ein neues Gender Recognition Law (Geschlechtsanerkennungsgesetz) gestimmt. Dadurch soll Personen ab 16 Jahren die Möglichkeit gegeben werden, ihr Geschlecht zu ändern und dafür ein Gender Recognition Certificate (Geschlechtsanerkennungszertifikat) zu erhalten. Zudem wäre keine medizinische Diagnose mehr nötig, um zu belegen, dass sich die Person nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das bei der Geburt zugewiesen wurde. Kurz: Für trans Personen sollte es von nun an rascher und unkomplizierter werden, ihr Geschlecht selbst zu wählen und dafür auch die notwendige rechtliche Anerkennung zu bekommen.

Bevor das Geschlechtsanerkennungsgesetz am Mittwoch dem König vorgelegt werden sollte, damit es Rechtskraft erhält, wurde es vom britischen Schottland-Staatssekretär Alister Jack geblockt. Die absurde Begründung: Das Gesetz sei »nicht mit dem Gleichheitsgesetz für ganz Großbritannien« vereinbar. Laut der britischen Regierung würden der Grundsatz der Gleichbezahlung, Frauenquoten und das Funktionieren von »geschlechterspezifischen Vereinen« dadurch unterminiert. »Es kann nicht zwei getrennte Rechtsprechungen zu einer wichtigen Frage im Vereinigten Königreich geben«, hieß es aus London. Es war bisher kein Problem, dass sich die Gesetzgebung in England und Schottland in unzähligen Fällen unterscheidet: So besteht seit 300 Jahren ein unterschiedliches Eherecht.

Zu den lautstärksten Gegner des Gesetzes zählt die Abgeordnete Kemi Badenoch, die immer wieder lautstark ihre transfeindliche Haltung kundtut. Ausgerechnet sie machte Premier Rishi Sunak zur neuen Ministerin für Frauen und Gleichstellung. Noch am Mittwoch abend demonstrierten Hunderte LGBTIQ- und linke Aktivisten vor dem Sitz der Regierung in London. Gegenüber dem Guardian sagte der Transgenderaktivist Sid: »Die britische Regierung liefert großartige Argumente für die Unabhängigkeit: Sie zeigt absolut keinen Respekt gegenüber trans Menschen und Schottland insgesamt.« In der Tat steckt hinter der Entscheidung mehr als dieses Gesetz: »Jack beginnt einen Kampf mit dem schottischen Parlament auf dem Rücken einer der marginalisiertesten Gruppen in unserer Gesellschaft«, zeigte sich sie die Sprecherin der Schottischen Nationalpartei (SNP) im Londoner Unterhaus, Philippa Whitford, gegenüber Medien verärgert.

Die SNP will Schottland als progressive Alternative zum Tory-England etablieren. In den vergangenen Monaten wurden mehrere progressive Gesetze beschlossen: So wurde die kostenlose Bereitstellung von Menstruationsartikeln eingeführt und ein Mietendeckel und Zwangsräumungsstopp für den Winter angekündigt. Dem will London nun Einhalt gebieten. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte noch am Mittwoch an, »dagegen vor Gericht zu ziehen«. Wie schon die Verhinderung eines neuen Referendums sei der Schritt von Jack »ein Angriff auf unsere Demokratie«. Auch der walisische Regierungschef Mark Drakeford (Labour) sagte gegenüber dem Guardian, »die britische Regierung betrete hier gefährliches Terrain«.

In der Debatte über die Unabhängigkeit verhärten sich daher weiter die Fronten: Konservative Schotten sehen London als Verteidigerin konservativer Werte, während die Befürworter der Unabhängigkeit ein weiteres Argument gegen die britische Regierung haben.

In Belfast tut sich derweil eine weitere Front auf. Die Blockierung des Geschlechtsanerkennungsgesetzes wurde von der liberalen Alliance Party (APNI), den Sozialdemokraten der SDLP wie von der republikanischen Sinn Féin (SF) durchweg kritisiert. Gegenüber Irish News sagte der APNI-Abgeordnete Stephen Farry am Donnerstag, seine Partei werde ein ähnliches Gesetz im nordirischen Parlament einbringen. Von SF und SDLP wird das unterstützt.

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  • Leserbrief von Bettina Goebel aus Goslar (27. Januar 2023 um 00:55 Uhr)
    Dieser Artikel ist eine Beleidigung der Intelligenz einer jeden linken Feministin mit marxistischem Anspruch. Ich verstehe auch nicht, was dieser woke, neoliberale (!) Unsinn unter der Rubrik »Feminismus« zu suchen hat? Frauen sind 50 Prozent der Gesellschaft und nicht eine Untergruppe sogenannter »queerer« Minderheiten. Vielleicht sollte man sich bei der jW daran erinnern, dass die Emanzipationsbewegung der Frauen ein Teil des Klassenkampfes der Arbeiter und Arbeiterinnen war und immer noch ist! Sich daran zu erinnern ist heute wichtiger als je zuvor. Wenn darüber keine theoretische Klarheit in der Redaktion besteht, dann ist es höchste Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, und der Auswahl der Artikel und Themen in der Rubrik Feminismus ein klares redaktionelles Konzept zu unterlegen, das im Einklang mit der gesamten Redaktionslinie ist. Ich schaue mir das hier schon seit Jahren mit Unverständnis an. Heute ist mir der Kragen geplatzt angesichts der Kriegstreiberei und erhöhten Eskalationsstufe der woke-neoliberalen Ampelkoalition mit weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Es ist kein Zufall, daß die »Postergirls« der Kriegsfraktion »Panzerfeministinnen« und »Zwergmännchen« wie Baerbock, Strack-Zimmermann und von der Leyen sind. Die sogenannte »Identitätspolitik«, die sich bis tief in die Linke im Allgemeinen hineingefressen hat, und als »links« verkauft wird, ist nichts anderes als eine neoliberale Gehirnwäsche, die darauf abzielt, das Verständnis von dem, was die Themen und Ziele linker Politik sein sollen, zu unterminieren. In der Linkspartei ist diese Irreleitung gelungen. Die versprengte Arbeiterklasse hat sich verkrümelt. In einer marxistisch orientierten Tageszeitung ist für solch pseudolinken Budenzauber kein Platz! Hier erwarte ich scharfe marxistische Analysen dieses bürgerlich-linksliberalen Phänomens. Suchen Sie nach Autoren und Autorinnen, die für die jW dieses Zersetzungsphänomen analysieren und einordnen können.

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