In Hosenträgern durch die Wüste
Von Matthias István Köhler
Die Bedingungen, um in Ostmitteleuropa über die von der kapitalistischen Restauration hinterlassene Wüste zu reden oder zu schreiben, sind nicht eben günstig. Die Konterrevolution verwischt ihre Spuren: Wahlweise werden die Verwüstungen gleich dem Nachwirken der östlichen Barbarei, also des Kommunismus, zugeschoben oder als Kollateralschäden einer heldenhaften Befreiung von eben diesem abgetan oder abgewälzt auf die Unzulänglichkeiten des damals frischgebackenen demokratischen Personals, das zwar mit einigem Enthusiasmus, aber eben ohne jegliche Businesserfahrung zu Werke ging.
Einer der wenigen, die die Wüste zu vermessen wussten, war der linke Publizist und Essayist Gaspar Miklos Tamas. Am Sonntag ist TGM, wie er in Ungarn genannt wird, nach langer Krankheit im Alter von 74 Jahren gestorben.
Ministerpräsident Viktor Orban verabschiedete sich in den sozialen Medien mit den Worten »Gott sei mit Dir, TGM. Ein alter Freiheitskämpfer ist gegangen.« Das war ernst gemeint. Die beiden zogen in den 80ern in Ungarn gemeinsam gegen das sozialistische System zu Felde, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Orban wollte es sich mit seinem Respektzoll aber auch nicht nehmen lassen, das letzte Wort zu haben, denn ihre Wege hatten sich lange schon getrennt. Während der ungarische Premier und seine Anhänger nach dem zum Scheitern verurteilten Versuch, zu den westlichen Staaten aufzuschließen, desillusioniert an die klerikal-faschistische Tradition des Weißen Terrors in Ungarn angeknüpft hatten, kehrte TGM zu seinen linken Wurzeln zurück – und machte Orban zu einem Hauptangriffspunkt seiner Publizistik.
Geboren wurde Tamas 1948 im siebenbürgischen Cluj in Rumänien, die Eltern ungarisch-jüdisch und – mit seinen eigenen Worten – Bolschewisten. In einem 2013 in der New Left Review erschienenen Interview – das längste, das bis dato in dem britischen Magazin veröffentlicht wurde, wie er damals in T-Shirt und Hosenträgern in Budapest bei irgendeiner linken Wieder- oder Neufindungsversammlung während einer Zigarettenpause stolz erzählte – beschrieb er den Briten seine »viktorianische Kindheit« folgendermaßen: »ein streng rationalistisches, puritanisches, fleißiges, geschlechtsloses, diszipliniertes Regime mit einer Vorliebe für Hochgeist, Hochkultur, Selbstvervollkommnung und rigoroses Studium; alles unterdrückt, ruhig und wohlgesittet: alles im Namen der Revolution.«
Es folgten das Studium der Philosophie in Cluj, die Verfolgung durch die Securitate, 1978 die Auswanderung nach Budapest, die Dozentur an der ELTE-Universität, Rauswurf und Dissidenz sowie von 1990 bis 1994 die Tätigkeit als Parlamentsabgeordneter der ungarischen Liberalen. Dann der Bruch mit all seinen alten Mitstreitern der sogenannten demokratischen Opposition.
TGM kehrt allerdings nur bedingt zu der Bewegung zurück, der seine Eltern ihr Leben gewidmet hatten. Nicht nur, weil es diese Bewegung nicht mehr gab. Denn auch im Marxismus hielt er es mit der Dissidenz, der Häresie, orientierte sich nicht am Ideal des asketischen Revolutionärs seiner Kindheit, sondern eher an hedonistischen Konzepten der West-68er.
Die Messlatte für eine gelungene Vergesellschaftung hängte der an Jean-Jacques Rousseau und der französischen Philosophie der Aufklärung Geschulte ziemlich hoch. Die Leistungen des »real existierenden Sozialismus«, der für ihn niemals real existiert hatte, erkannte er auch vor dem Hintergrund der neokapitalistischen Wüste an, legte aber genüsslich bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Finger in die Wunde, wenn es um die Frage ging, warum das Staatsprojekt der Arbeiterbewegung im Osten Europas zum Schluss dann doch eher kläglich endete.
Seine Interventionen in die politischen Debatten waren mal betont höflich, mal grob, der Ton in Ungarn ist rauh. Seine Kampfansage galt der Wüste in den Köpfen – der Geistlosigkeit eines sich hoffnungslos provinzialisierenden Denkens in Ostmitteleuropa. Anlässlich des Todes von Hermann L. Gremliza haute er 2019 beispielsweise seinen Lesern um die Ohren, dass niemand in der Region den Konkret-Herausgeber kenne. Ganz auf der Höhe der Zeit war er damals aber auch nicht mehr. Dem Autor des Nachrufs in der konservativen FAZ – es handelte sich um Dietmar Dath – beschied er, ein »halbkonvertierter Linker« zu sein.
Es kann gut sein, dass es in den vergangenen Jahrzehnten keine Konferenz von jungen Linken in Ostmittel- oder Südosteuropa gab, auf der TGM nicht vortrug, keine Demonstration in Ungarn, auf der er nicht kundgab. In jedem noch so feuchten Keller hätte man ihn in Budapest antreffen können, wie er in Hosenträgern und mit Zigarre in der Hand dasaß und denen, die anknüpfen wollen an verschüttete revolutionäre Traditionen und lernen wollen, wie die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen sind, etwas über Fjodor Dostojewski oder vielleicht Stendhal und Bela Kun erzählte. TGM wollte in der Wüste Blumen pflanzen. Es wundert nicht, dass er in den letzten Jahren mit der eigenen Resignation zu kämpfen hatte. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
Gespräche mit und Artikel von Gaspar Miklos Tamas in jW:
https://www.jungewelt.de/artikel/266281.die-zwei-gro%C3%9Fen-gefahren.html
https://www.jungewelt.de/artikel/176523.allein-gegen-orb%C3%A1n.html
https://www.jungewelt.de/beilage/art/264494
https://www.jungewelt.de/artikel/157122.diese-leute-sind-nicht-sehr-weise.html
https://www.jungewelt.de/artikel/142660.die-situation-ist-schlimm-wirklich-schlimm.html
https://www.jungewelt.de/artikel/125121.das-ist-klassenkampf-von-oben.html
https://www.jungewelt.de/artikel/122680.wir-hatten-1989-unrecht.html
Drei Wochen kostenlos lesen
Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.
Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Hausparty mit Merkelianer
vom 20.01.2023 -
Und sie bewegt sich doch
vom 20.01.2023 -
Raus aus der Tonne
vom 20.01.2023 -
Gefährliche Abfälle
vom 20.01.2023 -
Nachschlag: Alle Welt wartet
vom 20.01.2023 -
Vorschlag
vom 20.01.2023