Linde macht rüber
Von Moritz Gruber
Der BRD gehen die Kapitalisten aus. Linde, das wertvollste im Dax notierte Unternehmen, siedelt über in die USA. Auf einer außerordentlichen Hauptversammlung stimmten in Connecticut 93 Prozent der Aktionäre für das Delisting von der Deutschen Börse, wie der Weltmarktführer für die Herstellung von Industriegasen am Mittwoch abend mitteilte. Der Linde-Vorstand hatte den Schritt im Oktober vergangenen Jahres angekündigt. Das deutsche Kapital verliert ein Herzstück der Industrie. Ab dem 1. März wird das 150 Milliarden Euro schwere Monopol nur noch an der Wall Street gehandelt.
Der Linde-Konzern ist seit mehr als vier Jahren sowohl am New Yorker als auch am Frankfurter Aktienmarkt notiert. Im Jahr 2018 übernahm das Münchener Unternehmen den US-Konkurrenten Praxair. Durch die Fusion entstand ein weltumspannendes Monopol, wie es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte. Carl von Linde hatte Praxair 1907 gegründet, um den US-Markt zu erschließen. Doch im Ersten Weltkrieg konfiszierten die Vereinigten Staaten das nunmehr feindliche deutsche Kapital.
Gegner der Wiedervereinigung von 2018 monierten, die Übernahme von Praxair sei der erste Schritt, um Linde an die Vereinigten Staaten zu verkaufen. Die Geschäfte werden seither aus den USA geführt, der Firmensitz ist die Steueroase Dublin, übrig blieb allein der Firmenname. »Die deutschen Aktivitäten mit 7.000 Mitarbeitern, davon die Hälfte im Raum München, degradieren zum Filialbetrieb«, kommentierte damals die FAZ.
Widerworte gab es von sogenannten Kleinanlegern. So stimmte die Fondsgesellschaft Union Invest von der genossenschaftlich organisierten DZ Bank am Mittwoch gegen den Rückzug von Linde aus dem Dax. Die Vorteile für den Konzern seien »marginal«, »der negative Effekt für die heimischen Investoren überwiegt«, teilten die Manager mit. Auch die Investmentbanker der Deka-Bank klagten, es werde »deutlich, dass letztlich Praxair Linde übernommen hat und nicht umgekehrt.« Es handele sich um »eine Übernahme durch die Hintertür«. Besonders empört zeigte sich die Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz: »Entweder Linde hat die Strategie gewechselt, oder das Unternehmen war den Aktionären gegenüber nicht ehrlich.« Letztlich verkam der Protest des sogenannten deutschen Mittelstands aber zum Zwergenaufstand. Bei Linde haben die großen US-Fonds das sagen: Vanguard, State Street und Blackrock heißen die üblichen Verdächtigen, die die Anlegerstruktur dominieren. Fast drei Viertel der Aktien werden mittlerweile von US-Investoren gehalten.
Die Argumente für den Wechsel über den Atlantik wiegen schwerer. Der Dax ist den Aktionären zu klein. Sobald ein Unternehmen die Schwelle von zehn Prozent des gesamten Marktwerts in dem 40 Konzerne umfassenden deutschen Aktienindex übersteigt, muss es Aktien verkaufen. Insbesondere sogenannte Exchange-Traded-Fonds (ETF), die ganze Indizes in ihrem Portfolio nachzeichnen, müssen dann Wertpapiere abstoßen. Der Vorstandsvorsitzende von Linde, Sanjiv Lamba, hat des öfteren bemängelt, dass sich das negativ auf die Kursentwicklung der Konzernaktie auswirkt. Zudem entfalle der Mehraufwand der doppelten Bilanzierung. Unter dem Strich dürfte der weitaus größere US-Aktienmarkt schlichtweg höhere Renditen versprechen.
Das Delisting von Linde fällt in eine Zeit, in der die US-Regierung große Subventionsprogramme für Kapital aus dem Ausland auflegt. Die Deindustrialisierung der BRD schreitet weiter voran. Wer will schon in einem Land investieren, wo die Regierung die Energiepreise in die Höhe treibt und einen langen Krieg in Europa führt? Standortvorteile sehen anders aus. Es passt ins Bild: Für Linde im Dax nachrücken wird aller Voraussicht nach die Rüstungsschmiede Rheinmetall.
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