Genozid an Jesiden anerkannt
Von Nick Brauns
Der Angriff der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) auf die Angehörigen der jesidischen Glaubensgemeinschaft im Irak im Jahr 2014 war ein Völkermord. Das hat auch der Bundestag am Donnerstag in Anwesenheit jesidischer weltlicher und religiöser Würdenträger in einem gemeinsam von den Ampel- und Unionsfraktionen eingebrachten Antrag einstimmig anerkannt. Das Parlament folgte dabei der rechtlichen Bewertung des Sonderermittlungsteams der Vereinten Nationen. »Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der durch den IS begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, heißt es in der Resolution. Im August 2014 hatte der IS die Siedlungsgebiete der Jesiden in der Sindschar-Region im Nordirak überfallen. Rund 5.000 jesidische Männer wurden niedergemetzelt, bis zu 7.000 Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt, rund 3.000 von ihnen gelten bis heute als vermisst.
»Wir können den Völkermord nicht rückgängig machen, aber dafür sorgen, dass die Opfer Gerechtigkeit erhalten, damit der Völkermord nicht vererbt wird«, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen). Der nichtbindende Antrag enthält so den Auftrag an die Bundesregierung, »die juristische Aufarbeitung und Verfolgung von IS-Täterinnen und -tätern in Deutschland weiterhin konsequent durchzuführen und auszubauen«. Mehrere Abgeordnete verwiesen in ihren Reden auf ein »bahnbrechendes« Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, das im November 2021 erstmals einen IS-Kämpfer wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft nach dem Völkerstrafrecht verurteilt hatte. Am Dienstag wurde dieses Urteil durch den Bundesgerichtshof bestätigt.
Dass sich ein Großteil der Jesiden 2014 retten konnte, verdankten sie der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die einen Fluchtkorridor freigekämpft hatten. Denn die eigentlich zum Schutz der Jesiden in Sindschar stationierten Peschmerga der in Erbil regierenden Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) hatten sich damals kampflos zurückgezogen. Im Antrag findet sich bezeichnenderweise nichts darüber, wird doch die PKK in Deutschland als terroristisch verfolgt, während die Peschmerga deutsche Militärhilfe erhielten.
Neben dem Grüne-Abgeordneten Max Lucks war es insbesondere die Linke-Abgeordnete Sevim Dagdelen, die in ihrer Rede auf die »mutigen Kämpfer der YPG« als »Befreier der Jesiden« einging. Die Abgeordnete nannte die Anerkennung des Völkermordes »überfällig« und betonte, dass der Aufstieg des IS eine Folge der westlichen Interventionspolitik mit dem Krieg gegen den Irak 2003 und der Regime-Change-Politik in Syrien war. »Wer ein Interesse daran hat, die Jesiden zu schützen, muss alles dafür tun, um die Bombardierungen im Sindschar-Gebirge zu stoppen«, kritisierte die Linke-Politikerin das Schweigen der Bundesregierung zu türkischen Luftangriffen. In der Resolution heißt es lediglich, es sei zu »betonen«, »dass auch die Militäroperationen der Türkei die staatliche Souveränität des Irak verletzten«. Diese Angriffe erschwerten die Rückkehr geflüchteter Jesiden in ihre Heimatgebiete und führten zu neuen Fluchtbewegungen.
Der AfD-Abgeordnete Martin Sichert hieß zwar die »lieben Jesiden« in Deutschland »herzlich willkommen«. Der rechte Politiker nutzte aber seine weitere Rede zu einem rassistischen Rundumschlag gegen eine angebliche »Pervertierung« des Asylrechts, das auch »islamische Kriegsverbrecher« ins Land lasse, gegen »muslimische Clans« sowie zu den Vorfällen in der Berliner Silvesternacht.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (20. Januar 2023 um 02:41 Uhr)»Rund 5.000 jesidische Männer wurden niedergemetzelt, bis zu 7.000 Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt, rund 3.000 von ihnen gelten bis heute als vermisst.« »Wir können den Völkermord nicht rückgängig machen, aber dafür sorgen, dass die Opfer Gerechtigkeit erhalten, damit der Völkermord nicht vererbt wird«, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock. »Diese Einschätzung der Außenministerin ist zu begrüßen, ebenso wie die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern sowie der alljährlich begangene Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Zu diesem Datum jährt sich aber auch die Befreiung Leningrads von der Blockade, an der außer Deutschland viele andere westliche Länder beteiligt waren. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind damals 650.000 und 1,3 Millionen Menschen verhungert. Wir reden hier noch nicht einmal davon, dass die Sowjetunion 27.000.000 Opfer hatte und von Deutschland an Stelle Moskaus die Anlage eines großen Sees vorgesehen war. Für Deutschland, welches unlängst, die Geschichte fälschend, der Sowjetunion einen »Völkermord« an der Ukraine unterschob, war Leningrad und das Übrige natürlich kein Völkermord, denn in Kriegen gibt es halt immer viele Opfer. Liegt das daran, dass anschließend im Gegensatz zu den Jesiden prozentual noch genügend Russen übrig waren? Aber das lässt sich ja nachholen. Als Putin bei der letzten gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz die 10.000 Toten durch den Terror der Ukraine im Donbass als Völkermord bezeichnete, grinste Scholz in abwertender Weise. Das ist natürlich etwas ganz anderes als bei 10.000 Jesiden. In Russland wurde viel darüber berichtet und ich habe den Eindruck, dass man diese selektive Erinnerungskultur in Deutschland diesem Land noch wesentlich mehr übel nimmt als beispielsweise Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein solches zweierlei Maß ist der Gipfel der Ungerechtigkeit und der Unverschämtheit. Ein falscher Blick oder ein falsches Wort zur Unzeit können töten.
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