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Aus: Ausgabe vom 20.01.2023, Seite 2 / Inland
Agrarkrise

»Nur ein Fünftel der Erlöse kommt bei den Bauern an«

Bündnis mobilisiert für eine zukunftstaugliche Landwirtschaft und Ernährung. Ein Gespräch mit Inka Lange
Interview: Gitta Düperthal
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Bauernprotest gegen die Agrarpolitik der Europäischen Kommission (Bonn, 15.8.2022)

Mit dem Slogan »Wir haben Krisenprofite satt« rufen Sie am Sonnabend zur Demonstration auf, weil die Bundesregierung zuwenig für den notwendigen Umbau der Landwirtschaft und die sozial gerechte Ernährungswende unternehme. Was genau werfen Sie Agrarminister Cem Özdemir von Bündnis 90/Die Grünen vor?

Das Höfesterben geht unaufhaltsam weiter. Pro Tag geben circa zehn Höfe in Deutschland ihre Arbeit auf. Immer weniger Menschen können sich aufgrund steigender Inflation gesundes Essen leisten. Der Preisanstieg im Zeitraum von Dezember 2021 bis Dezember 2022 liegt bei etwa 20 Prozent. Rund um die Grüne Woche fordert der Minister gern, die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse zu senken und betont, es müsse klimagerecht und sozial gerecht angebaut werden. Doch gibt es dafür weder einen Zeitplan noch ein Budget. Er fordert immer Dinge, sollte sie aber statt dessen in seinem Ministerium gestalten. Sonst stockt der Umbau.

Was sollte Minister Özdemir für den klimagerechten Umbau der Landwirtschaft tun?

2022 wurden in der Landwirtschaft bereits beschlossene Klimaschutzmaßnahmen wieder aufgehoben und ökologische Vorrangflächen für Tierfutter freigegeben. Zusätzliche Artenschutzflächen sollen ein Jahr später als geplant eingeführt werden. Das geht gar nicht! Özdemir muss den Pestizid-Ausschluss vorantreiben, ein Glyphosat-Verbot verhängen. Er muss faire Erzeugerpreise durchsetzen: Nur ein Fünftel der Erlöse kommt bei den Bauern an, der Rest bleibt beim Einzelhandel. In Spanien gibt es zum Beispiel ein Gesetz, dass in Verträgen zu regeln ist, den Erzeugerpreis korrekt zu zahlen. In das Produkt einfließende effektive Kosten müssen verpflichtend aufgeführt und entsprechend gezahlt werden. Denn klimafreundliche und gesundheitsfördernde Herstellung muss sich lohnen.

Sie fordern, statt Konsum von Fleisch- und Milchprodukten durch ermäßigte Mehrwertsteuer staatlich zu fördern, pflanzliche Lebensmittel von der Mehrwertsteuer zu befreien. Bedeutet das aber nicht: Vor allem arme Menschen müssen ihren Konsum verändern?

Wir fordern in der Tat, die Mehrwertsteuer für umweltgerecht hergestelltes Obst und Gemüse zu senken. Das kann man als Steuerungselement für klimafreundlichere Landwirtschaft nutzen. Mit Arm und Reich hat das aber nichts zu tun. Natürlich finden wir es seltsam, dass die Regierung ausgerechnet Fleisch- und Milchkonsum über die Mehrwertsteuer staatlich fördert. Das Bündnis fordert aber nicht, diese Produkte zu verteuern. Abstruse Regelungen des Staates gibt es auch in anderen Bereichen. Im Verkehr wird mit der Pendlerpauschale umweltschädigendes Verhalten subventioniert. Ähnliches gilt auch für fossile Energie.

Gibt es Schnittmengen der Bewegungen gegen Kohleabbau und Autobahnbau mit dem Bündnis »Wir haben es satt«?

Wir konzentrieren uns auf das Ziel einer zukunftstauglichen Landwirtschaft und Ernährung. Aber am Beispiel Lützerath konstatieren wir, wie klimaschädlich Kohle ist. Die Folgen spüren Bauern vorrangig durch Hitzeperioden und Dürre, sowie durch Starkregen und Überschwemmungen. Insofern ist es auch unser Interesse, dass die Grenze von 1,5 Grad Erderwärmung eingehalten wird. Wir solidarisieren uns mit der Klimagerechtigkeitsbewegung, »Fridays for Future« macht in unserem Bündnis mit.

Menschen aus der Landwirtschaft und Konsumenten demonstrieren am Sonnabend. Was sind die gemeinsamen Interessen?

Es ist unsere Stärke, dass wir ein Bündnis aus Landwirtschaft und Zivilgesellschaft sind. Alle eint, dass die bäuerliche Ernährung aufrechterhalten werden muss. Menschen brauchen Zugang zu sozial-, klima- und tiergerecht angebauten Lebensmitteln.

Was erwarten Sie vom Agrarminister mit Blick auf globale Gerechtigkeit?

Zugang zu Land, Wasser und Saatgutvielfalt muss in den Ländern des globalen Südens gegeben sein. Wir fordern ein Verbot von Gentechnik. Produkte, für die Pestizidverbote in der EU gelten, dürfen nicht weiter in den globalen Süden exportiert werden – auch keine billigen Milchprodukte oder Hühnchenteile. Denn das macht diese Länder kaputt. Wir haben genug Flächen, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Lebensmittel werden nur ungerecht verteilt. Und: Wir müssen den Anbau für Futtermittel für Tiere oder Biosprit für den Tank unterbinden.

Inka Lange ist Sprecherin des Bündnisses »Wir haben es satt!«

Demonstration in Berlin am Samstag, 12 Uhr, Brandenburger Tor

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