Nicht mehr als lästig
Von Felix Bartels
In Washington wird nichts so heiß gekocht, wie es dann gegessen wird. Das Geschäft der beiden großen Parteien scheint kaum mehr in was anderem zu bestehen, als nach jedem Strohhalm zu greifen und ihn sogleich zur Keule zu machen. Zur Stunde ist noch nicht raus, wie groß der Skandal um Joseph Biden und die bei ihm gefundenen geheimen Dokumente tatsächlich wird. Während die Republikanische Fraktion tobt, als handle es sich um ein neues »Watergate«, serviert Bidens Stab die Wahrheit in Scheiben.
Anderthalb Tage lang hatte der Präsident vergangene Woche bei seinem Staatsbesuch in Mexiko zum ersten Fund geschwiegen, um sich schließlich »überrascht« zu zeigen. Am 10. Januar war bekannt geworden, dass man beim Ausräumen von Bidens Büroräumen im Penn Biden Center for Diplomacy and Global Engagement geheime Regierungsdokumente gefunden hatte. Sie stammen aus der Zeit seiner Vizepräsidentschaft (2009–2017), die Räume wurden von ihm in der Zeit danach, also privat, genutzt. Sollte sich herausstellen, dass Biden die Stücke wissentlich dort verwahrt hat, müsste ein Strafverfahren eröffnet werden. Seit 1978 sind scheidende Amtsträger gesetzlich verpflichtet, alle E-Mails, Briefe und sonstigen Dokumente dem Nationalarchiv zu übergeben.
Mittlerweile gab es zwei weitere Funde. Im bei Wilmington (Delaware) gelegenen Privathaus des US-Präsidenten, genauer in der Garage des Anwesens. Immerhin handelt es sich in diesem Fall nicht um Dokumente der höchsten Geheimhaltungsstufe. Die Stücke der ersten Tranche hingegen betreffen außenpolitische Vorgänge zur Ukraine, zum Iran und zu Großbritannien.
Der Vorgang ist nicht der erste dieser Art. Während des Wahlkampfs 2016 wurde bekannt, dass Hillary Clinton in ihrer Zeit als Außenministerin (2009–2013) ihren privaten E-Mail-Server für die amtliche Kommunikation benutzt hatte. Unter den 30.000 Nachrichten fanden Ermittler 110 mit Inhalten, die zum damaligen Zeitpunkt der Geheimhaltung unterlagen. Auch Bidens Amtsvorgänger Donald Trump, der Clintons Verhalten im Wahlkampf ausgeschlachtet hatte, verletzte später die gesetzlichen Bestimmungen.
Allerdings wiegt sein Vergehen schwerer. Trump entwendete Stücke aus dem Weißen Haus, nachdem er aus dem Amt geschieden war, zudem handelte er erwiesen vorsätzlich. Während Biden behauptet, nichts von den bei ihm gefundenen Dokumenten gewusst zu haben (was man ihm glauben kann oder nicht), hat Trump seine Dokumente dem Nationalarchiv vorenthalten, einen längeren Streit um die Herausgabe geführt und nach dem Einlenken nicht vollständig zurückgegeben, wie eine Durchsuchung seines Anwesens Mar-a-Lago (Florida) im August 2022 ergab. Auch die Umfänge des Materials unterscheiden sich. Bei Trump geht es um über 100 Schriftstücke, im Fall von Biden um ein Dutzend. So lässt sich in Bidens Fall vorerst nur von Schlamperei sprechen, und beim Umgang mit der Krise – im Gegensatz zu Trump, der die Ermittlungen aktiv behindert hat – von verzögerter Bekanntmachung.
Die allerdings politisch motiviert ist. Denn die Dokumente im Penn Biden Center wurden bereits am 2. November gefunden, sechs Tage vor den Midterm-Wahlen. Mit Erinnerung an den Wahlkampf von 2016 lässt sich leicht denken, dass eine sofortige Publikmachung der Angelegenheit Auswirkungen auf die Wahl gehabt hätte. Wie oft zeigt sich auch hier, dass die Demokraten ihr Image als Sachwalter von Fairness und übergeordneten Interessen pflegen, streng genommen aber kaum anders handeln als die Republikaner. Auch bei ihnen verschwimmen die Grenzen von Partei- und Amtspolitik, und die Republikaner haben derzeit leichtes Spiel, die doppelten Standards des amtierenden Präsidenten freizulegen, der Trumps Umgang mit Geheimdokumenten »unverantwortlich« genannt hatte und sich nun selbst in ähnlicher Affäre befindet. Neben der Relativierung des Falls Trump nutzt die Republikanische Partei die aktuelle Affäre ferner dazu, ihre Erzählung vom senilen, überforderten Präsidenten Biden fortzuspinnen. An der ist gewiss was dran, doch der vorliegende Fall scheint eher Beispiel für einen chaotisch agierenden Stab zu sein.
Dass die Affäre Biden aus dem Amt werfen wird, darf beim jetzigen Stand bezweifelt werden. Er kann sie gut aussitzen. Sollte sich erweisen, dass die geheimen Dokumente aktuelle Vorgänge berühren, wird das schwieriger. Widerspiegeln sie mittlerweile abgeschlossene Angelegenheiten, könnten sie allenfalls für einen Wahlkampf von Bedeutung sein. Der nächste steht 2024 an, bis dann wäre das Momentum dahin. So scheint die Affäre für Biden und seinen Stab gerade nicht mehr als bloß lästig.
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