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Aus: Ausgabe vom 19.01.2023, Seite 5 / Inland
Staatliche Repression

Prügel in der Not

Erwerbsloser wird von Jobcenter abgewiesen, von Polizei zusammengeschlagen und in einseitigem Prozess verurteilt. Verein fordert Aufklärung
Von Susanne Knütter
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Anstatt Ufuk T. zu einem Sachbearbeiter vorzulassen, rief man im Jobcenter die Polizei

Es war ein Urteil mit System. Vor fast vier Jahren wurde ein Erwerbsloser vom Amtsgericht Mannheim verurteilt, der auf sein Recht bestanden hatte, in einer existentiellen Notlage im Jobcenter angehört zu werden. Anstelle eines Gesprächs und Hilfe wurde er von der Polizei zusammengeschlagen, verhaftet und schließlich zu einer Geldstrafe wegen des »Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Hausfriedensbruch und Körperverletzung« verurteilt. Am Dienstag sollte das Verfahren wieder aufgerollt werden – vor dem Landgericht Mannheim. Aber der Prozess wurde verschoben. Der betroffene Ufuk T. kam ins Krankenhaus. Er konnte dem Druck nicht länger standhalten, sagte Matz Müllerschön vom Verein Üsoligenial (Überparteiliche Solidarität gegen Sozialabbau Heidelberg Rhein Neckar) am Dienstag gegenüber jW.

Kurz vor Verhandlungsauftakt hatte das Gericht den Prozess in einen größeren Gerichtssaal verlegt. Das hätte es gemacht, »weil wir den Fall öffentlich und auf den Prozess aufmerksam gemacht haben«, so Müllerschön. Ufuk T. wird in dem Berufungsprozess neben Üsoligenial auch von der Montagsdemo Heidelberg, dem Verdi-Erwerbslosenausschuss Rhein-Neckar und Stuttgart, Künstlern wie Konstantin Wecker und Peter Metz und zwei Kandidaten für die diesjährige Oberbürgermeisterwahl in Heidelberg, Alina Papagiannaki-Sönmez (Heidelberg in Bewegung) und Bernd Zieger (Die Linke), unterstützt.

Gleich zu Beginn seines Schlussplädoyers im ersten Gerichtsprozess am 25. Juni 2019 hatte der Staatsanwalt laut eines Prozessbeobachters für kommunalinfo-mannheim.de klargestellt, »die Arbeitsagentur steht nicht vor Gericht«. Tatsächlich aber kam ihr die erste Schuld zu. Hätte das Jobcenter in Mannheim gesetzeskonform gearbeitet, wäre es nicht zu der Eskalation im Juni 2018 gekommen.

Der frühere Briefträger Ufuk T. war bereits seit Jahren erwerbslos und hatte aufgrund seiner Krankheit einen Betreuer. Mit seiner berufstätigen Frau und zwei Kindern, von denen eines zum Zeitpunkt der Repression im achten Monat schwanger war, bewohnten sie eine Drei-Zimmer-Wohnung. Ein Bewilligungsbescheid des Jobcenters lag bereits vor, aber das Arbeitslosengeld II war seit etwa drei Wochen nicht ausgezahlt worden. Auch der Betreuer habe nach Informationen von Üsoligenial auf Anrufe keine Rückmeldung des Sachbearbeiters erhalten. In dieser Notlage ging Ufuk T. zum Amt. Beim Empfang sagte man ihm, er solle in vier Tagen zur »offenen Sprechstunde« wiederkommen. Ufuk T. ging nicht. Der Kühlschrank war leer. Für Vorschüsse standen im Foyer vom Jobcenter bis dahin Geldautomaten zur Verfügung.

Anstatt den »Kunden« zu einem freien Sachbearbeiter vorzulassen, rief man die Polizei. Im Prozess bestätigten Polizei und Sicherheitsdienst, dass Ufuk T. weder den Ablauf der Behörde gestört noch randaliert und es bis zur Eskalation ein ruhiges Gespräch gegeben hatte. Zu der kam es, weil die Polizei einen Platzverweis verfügte, für den sie sich auf ein angebliches Hausverbot berief. Den setzte sie dann brutal durch. Am Ende knieten, zogen, hebelten und prügelten fünf Polizisten und ein Sicherheitsmann an und auf Ufuk T. ein. Dafür wurde er zu 170 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt. Das Gericht ging damit noch höher, als die ursprüngliche Geldstrafe vorsah.

Der Verein Üsoligenial fordert Freispruch und Aufklärung, auch über den Ablauf des ersten Prozesses. So habe das Gericht die Anträge des Rechtsanwalts abgelehnt, Mitarbeiter und Besucher des Jobcenters zu befragen. Es steht im Raum, dass einer Beschäftigten des Jobcenters, sollte sie aussagen, mit Kündigung gedroht wurde. Offen ist die Rolle des Sicherheitsmannes bei der Zuspitzung der Situation. Schilder an der Pforte des Jobcenters warnen vor Kameraüberwachung. Gibt es also Videoaufnahmen? An der Beantwortung dieser und weiterer Fragen hatte das Gericht kein Interesse. Bezweifelt werden darf, ob der Berufungsprozess anders wird.

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