Rotlicht: Frühsozialismus
Von Marc Püschel
Kaum etwas Ideengeschichtliches lässt sich so genau datieren wie die Geburtsstunde des Frühsozialismus. Als der französische Revolutionär Louis Antoine de Saint-Just in einer Rede vor dem Konvent im Oktober 1793 ausrief »Le pain est le droit du peuple« (»Das Brot ist das Recht des Volkes«), war der entscheidende gedankliche Schritt über die bürgerliche Revolution hinaus getan. Nicht mehr das rein formelle bürgerliche Recht darauf, als Marktteilnehmer agieren zu dürfen, sondern das faktische Recht auf Lebensunterhalt und soziale Gleichheit beschäftigte nun die politischen Gemüter.
Schon weit früher hatte es idealisierende Entwürfe einer friedlichen Menschheitszukunft gegeben, sei es im Christentum oder bei Utopisten wie Thomas Morus oder Tommaso Campanella. Doch erst Ende des 18. Jahrhunderts prägten sich im Gefolge der Französischen Revolution die Charakteristika des Frühsozialismus heraus: Die Überzeugung von der realen Möglichkeit der Verwirklichung einer Gesellschaft ohne Privateigentum, Krieg und Klassen zum einen; das Bewusstsein, dass diese Gesellschaft politisch gegen Widerstände von Adel, Klerus und Reichen erstritten werden muss, zum anderen.
Die ersten Frühsozialisten und Kommunisten rekrutierten sich aus den Revolutionsteilnehmern. Als ihr erster großer Repräsentant gilt François Noël Babeuf, der Mitte der 1790er Jahre die Societé des Égaux (Gemeinschaft der Gleichen) um sich scharte. Seine Hinrichtung 1797 nutzte der Reaktion nichts, hydragleich wuchsen der neuen Bewegung – deren Stärke sich aus der wachsenden Zahl an Lohnarbeitern speiste – immer neue Anführer, zu deren berühmtesten Henri de Saint-Simon, Charles Fourier und Robert Owen zählen. Mit überschäumender Energie stritten sie für eine gerechte Gesellschaft und prägten dabei Organisationsformen wie das Gewerk- und Genossenschaftswesen bis in die Gegenwart. Dass dabei die Gleichberechtigung nicht allein dem Besitz, sondern auch etwa dem Geschlecht nach auf der Tagesordnung stand, bewiesen die zahlreichen Frühsozialistinnen – darunter die französische Schriftstellerin und Feministin Flora Tristan, die in ihrem Buch »Arbeiterunion« von 1844 bereits den Spruch »Proletarier (aller Länder), vereinigt euch« prägte.
So groß die Tatkraft und Kreativität dieser politischen Riesen war, so groß war die Unklarheit, wie eigentlich eine kommunistische Gesellschaft aussehen solle und mit welchen Mitteln sie zu erreichen sei. So wusste der Schneider Wilhelm Weitling zwar, dass die »Gütergleichheit« den Kapitalisten abgetrotzt werden muss, doch dachte er sich in seiner Schrift »Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte« den Kommunismus noch mit Ständen (nämlich Bauern-, Werk- und Lehrstand).
Im »Manifest der Kommunistischen Partei« führten Karl Marx und Friedrich Engels das Unausgegorene dieser Ansätze auf den unterentwickelten Stand des Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat zurück und urteilten: »Die Erfinder dieser Systeme sehen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.«
Da er die Rolle des Proletariats als neuer historischer Kraft nicht richtig einzuschätzen wisse, trage der Frühsozialismus utopisch-phantastischen Charakter, sagen Marx und Engels. Mit diesem Urteil ist dessen Geschichte nach nur etwas mehr als 50 Jahren bereits vorbei. Zwar wurde auch danach argumentiert, der Kommunismus ließe sich mit friedlichen Mitteln, mit Propaganda oder vorbildhaften sozialen Projekten erreichen, beispielsweise in der 68er-Bewegung. Neue Gedanken und bleibende Organisationsformen sind daraus jedoch nicht mehr hervorgegangen.
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