Rache statt Völkerrecht
Von Knut Mellenthin
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock wirbt für ein »Sondertribunal«, das die gesamte politische und militärische Führung Russlands einschließlich des Präsidenten Wladimir Putin aburteilen soll. Zu diesem Zweck war Baerbock am Montag im niederländischen Den Haag, wo der Internationale Strafgerichtshof – englisch abgekürzt: ICC – seinen Sitz hat, hatte separate Treffen mit dessen Präsidenten Piotr Hofmanski und dem Chefankläger Karim Khan. Außerdem hielt sie einen langen Vortrag vor der Haager Akademie für Völkerrecht.
Ganz neu ist die Idee des »Sondertribunals«, das unabhängig vom ICC agieren, aber sich dessen Autorität zunutze machen soll, nicht. Die deutsche Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hatte schon am 30. November vergangenen Jahres die Einsetzung eines »von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichts« gefordert, »um Russlands Aggressionsverbrechen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen«. Baerbock kommt lediglich das fragwürdige Verdienst zu, diese Idee in ihrem Vortrag ein wenig präzisiert und ausführlich begründet zu haben. Chefankläger Khan hat dieser Forderung schon am 5. Dezember ausdrücklich widersprochen und vor einer »Fragmentierung« der internationalen Rechtsprechung gewarnt.
In ihrer Ansprache in der Akademie für Völkerrecht am Montag begründete Baerbock die Notwendigkeit eines »Sondertribunals« damit, dass der ICC zum Anklagepunkt »Aggression« nur gegen Staaten verhandeln könne, die das Statut des Gerichts unterschrieben und ratifiziert hätten. Das haben bisher nur 123 der 193 Mitglieder der UNO getan. Russland und die Ukraine gehören dazu ebensowenig wie beispielsweise die USA oder China. Da es aber nicht angehe, »Putins Angriffskrieg« ungestraft zu lassen, brauche es ein »neues Format«, ein neu zu schaffendes Gericht mit eigenen Regeln.
Dieses »Sondertribunal« könnte nach Baerbocks eigenwilliger Ansicht »seine Jurisdiktion aus dem ukrainischen Strafrecht ableiten«, sollte aber »von möglichst vielen Staaten in der Welt getragen werden«. Diese »internationale Komponente«, die man auch als geschickte Camouflage bezeichnen könnte, soll Baerbock zufolge »zum Beispiel mit einem Standort außerhalb der Ukraine, mit finanzieller Unterstützung durch Partner und mit internationalen Staatsanwälten und Richtern die Unparteilichkeit und die Legitimität dieses Gerichts untermauern«.
Parallel zur Schaffung dieses »Sondertribunals« müsse eine Umschreibung des Römischen Statuts angestrebt werden, das der Arbeitsweise des ICC zugrunde liegt, forderte Baerbock. Das Völkerrecht müsse derart »weiterentwickelt« werden, »dass es unseren Realitäten im 21. Jahrhundert gerecht wird«. Die »Rechenschaftslücke« im Völkerrecht, die eine Anklage Russlands wegen des Verbrechens der Aggression beim ICC verhindere, müsse geschlossen werden.
Für das, was Baerbock »Reform des Völkerrechts« nennt, gibt es ebensowenig eine Mehrheit in den Vereinten Nationen wie für die Einrichtung eines »Sondertribunals«. Das ist aber sicher auch der Bundesaußenministerin bewusst. Die von ihr vorgetragenen Ideen setzen eine »Koalition der Willigen« voraus, die die Entwicklung eines allgemein akzeptierten und praktizierbaren Völkerrechts entscheidend schwächen und behindern würde. Darüber hinaus lässt die Drohung mit einem Strafgericht gegen Russland eine Beendigung des Krieges auf dem Verhandlungsweg von vornherein unmöglich erscheinen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. Januar 2023 um 13:28 Uhr)Es geht hier nur darum, das vom Westen gesperrte russische Vermögen, ein juristisches Alibi zu schaffen, um es sich ganz einzuverleiben. Aber bitte Vorsicht! Die Party ist nicht zu Ende und wie bekannt: Immer der Sieger bestimmt die Geschichte.
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Leserbrief von Wolfgang Schmetterer aus Graz (18. Januar 2023 um 12:58 Uhr)Wenn schon von einem »Sondertribunal« die Rede ist: Wo bleibt ein »Sondertribunal«, das die gesammelten Kriegsverbrechen des »Wertewestens« der vergangenen Jahrzehnte aufarbeitet und Kriegsverbrecher wie George W. Bush, Bill Clinton und Henry Kissinger endlich zur Rechenschaft zieht? Wo bleibt das »Sondertribunal«, das von der Leyens, Scholzens, Habecks, Baerbocks und Strack-Zimmermanns Kriegstreibereien zur Anklage bringt bzw. die Kriegstreibereien der (ost)europäischen Staatschefs. Wo das »Sondertribunal«, das die ukrainischen Faschisten und deren eifrigen Diener Selenskij für ihre Verbrechen im Donbass und den gezielten Einsatz von geächteten Antipersonenminen ihrer gerechten Strafe zuführt? NATO-Vertreter wie Stoltenberg sind weitere Personen, die sich vor einem »Sondertribunal« verantworten müssten. Die Liste ist lang und die Abarbeitung würde die Justiz wohl über Jahrzehnte beschäftigen. (So nebenbei: Warum hat der Verfassungsschutz die junge Welt im Visier und nicht die Medien der »Westpresse«, die mit ihrer hemmungslosen Kriegspropaganda das Staatswohl gefährden?) Dass ausgerechnet Russland vor ein »Sondertribunal« gestellt werden soll – noch dazu für etwas, das man mit Fug und Recht als Notwehr bezeichnen kann –, ist an Absurdität nicht zu überbieten.
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Leserbrief von Mike Gallrach aus Berlin (18. Januar 2023 um 10:33 Uhr)Und täglich grüßt das neokonservative Murmeltier. Die Goldene Milliarde will sich ein neues Spielzeug schaffen. Muammar Al-Gaddafi konnte man noch medienwirksam wie einen Hund erschießen lassen. Hier will man gleich die ganze Russische Regierung samt Chefteufel mit Hilfe einer Juristenblase der Willigen verurteilen. Und natürlich werden die vom neokonservativen Murmeltier frei unterstützten Faktencheker ganz korrektiv die Richtigkeit bestätigen. Natürlich erst, nachdem Russland mit dem Balkenkreuz »leopardisiert« wurde. Und das Land dann fachgerecht in brauchbare und verzichtbare Teile seziert wurde. Alles schön Wertebasiert. Die Pläne dafür liegen ja noch in Opas Nachtschränkchen neben der lustigen Mütze mit dem Folklorekreuz, die man auch in der Ukraine sehen kann. Wenn man will?
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (18. Januar 2023 um 02:47 Uhr)Hier wird der Baerbock zum Gärtner gemacht. Die beteiligten Staaten an einem solchen »Strafgericht« gegen die russische Führung dürften sich auch auf der Liste der »Koalition der Willigen« beim Überfall auf Jugoslawien und den Irak wiederfinden. Entgegen deutschen Behauptungen, nicht am Irakkrieg beteiligt gewesen zu sein, wurden die USA sehr wohl logistisch dabei unterstützt. Wegen der auf deutschem Boden befindlichen elektronischen militärischen Einrichtungen der USA war Deutschland auch bei illegalen Drohnenmorden im Irak mit von der Partie. Über den nächsten Bankeinbruch lassen wir daher auf jeden Fall ein Sondergericht entscheiden, welches aus führenden Bankräubern besteht und bei Anklagen wegen Vergewaltigung entscheiden Vergewaltiger. Rache kann es nur gegen etwas geben, was stattgefunden hat. In Nürnberg wurden nicht die Verteidiger vor Gericht gestellt, sondern die Angreifer. Die Republiken im Donbass verteidigen sich bis zum heutigen Tag gegen das Kriegsverbrechen der Ukraine, gezielt Zivilisten zu beschießen. Dies geschieht seit 2014 täglich in Donezk. Bei Kriegsverbrechen müssen unwiderlegbare Beweise vorgelegt werden, die nicht von der anklagenden Seite vorfabriziert werden konnten. So etwas wie Butscha gehört beispielsweise nicht dazu. Für die Beweisfindung eines etwaigen Tribunals gegen die Ukraine genügt dagegen bereits eine einfache Stadtrundfahrt durch Donezk (habe ich gemacht). Seit 2014 sind genauestens alle Zivilisten mit Name und Adresse aufgeführt und alle zivilen Einrichtungen, die Opfer des Beschusses der eigenen Bevölkerung durch die Ukraine wurden. Dafür gibt es fast eine Million Zeugen, die Bewohner dieser Stadt. Ferner ist die Frage zu verhandeln, warum es stets mehr Ukrainer in russischer Gefangenschaft gibt, die für einen Austausch zur Verfügung stehen als Russen in ukrainischer Gefangenschaft, wie die Kriegsgefangenen zuvor behandelt wurden (Zeugen) sowie die Abschusseinrichtungen der Ukraine in ziviler Umgebung.
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