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Aus: Ausgabe vom 14.01.2023, Seite 8 / Inland
Wahlkampf in der Hauptstadt

»Wer gehört zu unserer Gesellschaft – und wer nicht?«

Berlin: Beratungsstelle »Reach Out« kritisiert rassistische Debatte über Gewalt in der Silvesternacht. Ein Gespräch mit Sabine Seyb
Interview: Gitta Düperthal
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Machtdemonstration der Polizei bei einer Kontrolle während der Silvesternacht in Hanau (1.1.2021)

Sie fordern, die rassistische Debatte zu den Böllerangriffen in der Silvesternacht in Berlin-Neukölln zu beenden. Worauf beziehen Sie sich konkret?

Bevor eine seriöse Ermittlungsarbeit beginnen konnte, hatte die Polizei schon falsche Zahlen genannt. 145 Personen seien nach Böllerangriffen auf Polizeikräfte und Feuerwehrleute festgenommen worden; vergangenes Wochenende waren es dann 38 Personen, zu zwei Dritteln Deutsche. Ob die Täter sozial benachteiligte migrantische Jugendliche waren, wissen wir nicht. Aber sogenannte Expertinnen und Experten fühlten sich sofort zu solchen Analysen berufen.

All das sind nur Verdächtigungen und Mutmaßungen. Wir warnen davor, solche rassistischen Debatten zu initiieren. Prompt fühlen sich Täter ermutigt, zuzuschlagen. Nach permanenten Polizeikontrollen und Razzien in Shishabars gab es die rassistischen Morde in Hanau. Oder erinnern wir uns an die Bilder geflüchteter Menschen im Jahr 2015 vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin. Sie mussten dort übernachten, wo sie registriert wurden. Als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel begann, von »Wir schaffen das« auf »Jetzt ist es aber genug« umzuschwenken, stieg die Zahl rassistisch motivierter Angriffe an.

Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD lud am Mittwoch zum »Gipfel gegen Jugendgewalt« ein. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Aus unserer Sicht ist das Wahlkampfgetöse: Reflexhaft eine Tätergruppe auszumachen und zu diffamieren hat nichts mit Strategien und sinnvollen Maßnahmen zu tun. Zumal nicht einmal feststeht, dass die Menschen, die Feuerwehrleute und Polizisten angegriffen haben, überhaupt alle unter 18 Jahre alt waren, wie behauptet. Angenommen, es wäre so: Wenn Jugendeinrichtungen geschlossen werden, zugleich aber angekündigt wird, bessere Jugendarbeit zu machen, muss man sich nicht wundern. Mittel werden gekürzt, und Maßnahmen, die langfristig wirken können, gibt es nicht. Letztlich geht es doch darum: Wer gehört zu unserer Gesellschaft – und vor allem: wer nicht? Einige meinen, das seien die sowieso schon Ausgegrenzten, die keine Lobby haben. Momentan ist die Betroffenheit groß. Nach wenigen Wochen wird sie wieder abebben. Das Versprechen, mehr Gelder für die Jugendarbeit auszugeben, wird nach der Abgeordnetenhauswahl im Februar wieder vergessen sein.

Wen sehen Sie in der Verantwortung für die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird?

CDU und SPD verkünden großspurig: Wir kümmern uns um die innere Sicherheit. Die CDU fragt als erstes nach Namen der Festgenommenen. Wir und andere, die sich kritisch zu dieser Debatte äußern, werden als naive Spinner dargestellt, nur weil wir sagen, dass die Herkunft der Täter wenig aussagt.

Giffeys Ruf nach einem starken Staat ist angekommen. Die AfD braucht es dazu nicht mehr. Seit den 1980er Jahren werden Menschen in Berlin an Silvester und den Tagen zuvor gezielt mit Böllern beschossen. Unabhängig davon, wer es war und ob die Betroffenen Uniform tragen oder nicht, ist das gefährlich. Aber jetzt hat die Polizei Hinweisportale für die Straftaten in der Silvesternacht eingerichtet, bei denen Menschen anonym andere denunzieren können.

Wäre ein generelles Böllerverbot wegen Verletzungsgefahr, Belastung von Krankenhäusern und Umweltverschmutzung sinnvoll?

Auch wenn Mediziner und Feuerwehrleute es jedes Jahr aufs Neue fordern, wäre so ein Bundesgesetz kompliziert. Die FDP würde sofort einwenden, es schädige die Wirtschaft. Fragt sich jedoch: Wo und wie würde ein Verbot durchgesetzt? Macht die Polizei dann mit Racial Profiling Jagd auf Menschen in bestimmten Stadtteilen wie etwa Neukölln? Auch in Villenvierteln gefährden Besoffene mit Böllern andere Personen. Es müssen ernsthafte Maßnahmen gegen institutionellen und strukturellen Rassismus umgesetzt werden – insbesondere in den Behörden und bei der Polizei.

Sabine Seyb ist Mitbegründerin der Berliner Beratungsstelle »Reach Out« für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

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