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Aus: Ausgabe vom 14.01.2023, Seite 4 / Inland
Kapital und Kohle

Lützeraths letztes Aufgebot

Räumung von Weiler für RWE vor Abschluss. Kohlegegner und Grünen-Basis fordern Stopp. Initiative kündigt direkte Aktion in Tagebau an
Von Marc Bebenroth
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Kräfte gebunden: Die Beamten sind am Freitag auch auf Einsätze in der Höhe vorbereitet

Für den Kohlekonzern war es alles andere als ein Unglückstag: Die Spekulanten an der Frankfurter Börse ließen den Aktienkurs von RWE am Freitag, dem 13., steigen. Hatte der Schlusskurs am Donnerstag noch 41,91 Euro betragen, wurde eine Aktie am Freitag mittag für 42,56 Euro gehandelt, wie Welt berichtete. Die zur Durchsetzung der RWE-Profitinteressen vollzogene Räumung des Weilers Lützerath im rheinischen Kohlerevier war bis jW-Redaktionsschluss beinahe abgeschlossen.

Nachdem sich bereits am Donnerstag weitere Klimaschutzaktivisten der zahlenmäßig und materiell überlegenen Staatsmacht ergeben hatten, hielten sich am Freitag nur noch wenige Widerstandleistende dort auf. Auf jW-Nachfrage bei der Initiative »Lützerath lebt« war keine genaue Zahl der Verbliebenen zu erfahren. Man habe sie nicht durchgezählt, hieß es lakonisch. Auf Dächern harrten einige aus, bis auch das letzte Gebäude geräumt wurde. Einzelne hielten ihre Stellung auf sogenannten Monopods oder in »Traversen«, den zwischen Bäumen und den Holzmasten gespannten Seilen. Mit dem Durchtrennen solcher Verbindungen gefährde die Polizei aktiv Menschenleben, warnte »Lützerath lebt« gegenüber jW sowie auf Twitter.

Unterstützt durch die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk, machte sich die Polizei daran, in den am Donnerstag bekanntgewordenen Tunnelbau vorzudringen. Am Freitag morgen informierte eine Sprecherin von »Lützerath lebt« darüber, dass sich in vier Metern Tiefe zwei Kohlekraftgegner aufhalten. Diese seien entschlossen, sich anzuketten, sobald man versuche, sie herauszuholen. Ein von den Aktivisten am Donnerstag veröffentlichtes Video zu den beiden Antikapitalisten im Untergrund trägt den Titel »So verzögern wir die Räumung«. Auf jW-Nachfrage, zu welchem Zweck die Polizeiaktion in die Länge gezogen werden soll – höhere Kosten für den Staat? Zeit gewinnen für andere Protestaktionen? – hieß es seitens der Initiative lediglich, dass man die Erweiterung des angrenzenden Tagebaus Garzweiler II durch RWE verhindern wolle. Diese Forderung erhoben auch die etwa 25 bis 30 Kohlekraftgegner, die am Freitag in Essen den Zugang zur Konzernzentrale blockierten. Drei von ihnen ketten sich nach Angaben eines Sprechers an einem Rolltor fest. Sie wollten erreichen, dass die Räumung abgebrochen wird.

Angesichts ihrer politischen Verantwortung für das Wegbaggern Lützeraths zum Nutzen von RWE ernteten Bündnis 90/Die Grünen weiter Gegenwind. So hatten Demonstrierende die Landeszentrale in Düsseldorf besetzt, die Polizei räumte die Büroräume in der Nacht auf Freitag. In Schleswig-Holstein demonstrierten vor dem Wahlkreisbüro von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in Flensburg etwa 30 Menschen in Solidarität mit Lützerath, wie der NDR am Donnerstag abend berichtete. Und mehr als 2.000 Mitglieder unterzeichneten bis Freitag vormittag einen offenen Protestbrief, mit dem Habeck und NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur aufgefordert werden, die Räumung in Lützerath umgehend zu stoppen.

Am 1. Dezember hatte der Bundestag in namentlicher Abstimmung beschlossen, den Ausstieg aus der Kohleverstromung um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen. Im Gegenzug darf Lützerath dem Schaufelradbagger geopfert werden. 101 von 118 Grünen-Abgeordneten stimmten damals dafür. Der Deal mit RWE »droht mit den Grundsätzen unserer Partei zu brechen«, heißt es in dem Brief. »Wir brechen damit auch mit dem Pariser Klimaabkommen, dem Ampelkoalitionsvertrag und dem letzten Vertrauen der Klimagerechtigkeitsbewegung.« In der Wählerschaft ist die Stimmung ähnlich, eine große Mehrheit von 87 Prozent ist offenbar generell gegen die Ausweitung von Braunkohleabbaugebieten. Dies geht aus dem am Freitag veröffentlichten ZDF-»Politbarometer« hervor.

In einem am selben Tag veröffentlichten Spiegel-Interview verwies Habeck einmal mehr darauf, dass Lützerath der letzte Ort sei, der in der BRD der Braunkohle zum Opfer fällt. Das Dorf sei daher »nicht das Symbol für ein Weiter-so«, es sei »der Schlussstrich«. Dabei scheint die letzte Messe doch noch nicht gelesen. Auf weitere Sitzblockaden durch Unterstützer sei die Polizei »sehr gut« vorbereitet gewesen, sagte eine Sprecherin von »Lützerath lebt« in einer auf Twitter verbreiteten Videobotschaft. »Worauf sie vielleicht nicht vorbereitet sind, ist, wenn wir uns zusammen dem größten Drecksloch Europas direkt in den Weg stellen, wenn wir in den Tagebau gehen.«

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (16. Januar 2023 um 16:47 Uhr)
    Tausende demonstrieren in Lützerath gegen die Klima- und Umweltpolitik. Es sind viele, es werden mehr, die dagegen aufstehen. Es macht Hoffnung, weil aus wachsender Masse vielleicht auch Denken der Klasse, politisches Denken, eher wachsen kann. Das ist es aber noch nicht. Wachsender Protest für Klima und Umwelt, gegen Regierungspolitik ist weitgehend noch keine bewusste darüber hinausgehende Kritik an den gesellschaftlichen kapitalistischen Verhältnissen. Wer nicht an Ursachen und Wurzeln geht, wird auch dem noch so massenhaften Protest kein veränderndes, revolutionäres Ziel und Richtung geben. Dazu fehlt es an den gesellschaftlichen Kräften wie Gewerkschaften, klarer politischer Opposition und politischer Orientierung, die Klima, Umwelt, Krise, Krieg, Inflation, Soziales, Außen- und Innenpolitik. Materialistische Dialektik und Klasseninteressen sind der Linken abhandengekommen. Sie verzichten darauf und sind im bürgerlichen Betrieb der Scheindemokratie gelandet. Lützerath wirft bei den meisten Aktivisten nicht einmal die brennende Frage nach dieser geheiligten und gelobten Demokratie auf. Lenin hat sie vor 100 Jahren mit der Frage entzaubert: Demokratie für wen, gegen wen? Lützerath beantwortet sie mit der Polizeigewalt im Interesse der Konzerne und Profiteure, deren Staat dieser Staat ist. Die aktuellen Kämpfe sind wichtig, aber keineswegs die Lösung des Grundübels. Der Grüne Habeck erklärt Lützerath regierungspolitisch, aber nicht, dass Lützerath nur Symbol für das weiter ist, Ausstieg 2030 längst nicht letztes Wort sein wird. Was wird Habecks Nachfolger erklären?

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