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Aus: Ausgabe vom 13.01.2023, Seite 2 / Inland
Krieg in der Ukraine

»Deutschland ist längst Kriegspartei«

Pazifistischer Verband kritisiert Waffenlieferungen an Kiew und fordert Friedensverhandlungen. Ein Gespräch mit Jürgen Grässlin
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Bundeswehr-Soldaten zwischen »Leopard«-Kampfpanzer und dazugehöriger Munition

Sie kritisieren die Waffenlieferungen in die Ukraine. Was wird von seiten der Bundesregierung alles geliefert?

Mit einem Volumen von 2,2 Milliarden Euro war die Ukraine 2022 das Hauptempfängerland deutscher Kriegswaffen. Das seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffs gelieferte Waffenarsenal reicht von Handgranaten, Panzerfäusten und Maschinengewehren über Granatwerfer, »Stinger«-Flugabwehrraketen und MARS-Raketenwerfer bis hin zu »Panzerhaubitzen 2000«, »Gepard«-Flakpanzern und jüngst »Marder«-Schützenpanzern. Hinzu kommt Munition in unglaublicher Menge. Zudem drängen Waffenexportbefürworter unermüdlich auf die Lieferung von »Leopard 2«-Kampfpanzern.

Deutschland ist längst Kriegspartei geworden.

Welche militärischen Maßnahmen bezüglich der Ukraine gibt es zudem?

Wenn Slowenien im Ringtausch mit Deutschland seine T-72-Kampfpanzer in die Ukraine liefert, dann wissen die dortigen Streitkräfte diese Waffensysteme sowjetischer Bauart einzusetzen. Wenn aber jetzt schwere Waffen westlicher Bauart exportiert werden, dann müssen ukrainische Soldaten daran ausgebildet werden. Genau das passiert seitens der USA, Großbritanniens und Deutschlands.

Sie fordern die Ausweitung ziviler Hilfe. Was verstehen Sie darunter?

Die Logik der Kriegs muss endlich durchbrochen und dazu müssen sämtliche zivile Hilfsmaßnahmen genutzt werden. Aktuell zählen dazu die Lieferung von Kranken- oder Feuerwehrfahrzeugen, zudem Transporter und Material für den Wiederaufbau.

Friedensverhandlungen sollen nach Ihrer Vorstellung unter UN-Ägide stattfinden. Oft wird behauptet, es gäbe keinen Verhandlungswillen der Konfliktparteien. Wie ist Ihre Einschätzung?

Solange das Regime Putin die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion weiter Teile des Ostens und Südens der Ukraine zur Voraussetzung für Friedensverhandlungen macht, kann es diese nicht geben. Solange die Regierung Selenskij die Rückeroberung eines jeden Quadratmeters besetzten bzw. annektierten Landes als Voraussetzung benennt, kann es ebenfalls keine geben. Die Lösung läge in Friedensverhandlungen auf neutralem Boden ohne Vorbedingungen unter Leitung von UN-Generalsekretär António Guterres. Ziel müsste sein, Lösungen zu finden, wie etwa die Neutralität bestimmter Regionen der Ukraine unter UN-Schutz, mit Sicherheitsgarantien der USA und Russlands.

Die deutsche Außenministerin hat sich derweil in dieser Woche in Charkiw mit den Menschen vor Ort solidarisiert, aber auch weitere Waffenlieferungen gefordert.

Im ersten Moment dachte ich: Was für eine bewundernswerte Aktion. So wird der Blick der Weltgemeinschaft auf die dramatische Lage der ukrainischen Zivilbevölkerung gelenkt.

Und im zweiten Moment?

Da frage ich mich, warum Frau Baerbock im vergangenen Frühjahr nicht schon nach Nordsyrien und in den Nordirak geflogen ist, um vor Ort auf die dramatische Lage der kurdischen Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen. Bei der alljährlich stattfindenden sogenannten Frühjahrsoffensive bombardiert die türkische Luftwaffe völkerrechtswidrig zivile und militärische Ziele. Bei der Besetzung der kurdischen Stadt Afrin wurden deutsche »Leopard 2«-Panzer eingesetzt.

Wie reagiert der Westen auf diese Kriege?

Alle westlichen Regierungen, auch die Bundesregierung, schauen trotz schwerster Menschenrechtsverletzungen beschämt weg. Denn die Türkei ist NATO-Mitglied. Wenn das Regime Erdogan im kommenden Frühjahr erneut todbringende Angriffe fliegt, dann sollte Frau Baerbock sich mit einem Vor-Ort-Besuch mit der kurdischen Zivilbevölkerung solidarisieren – das wäre glaubwürdige Friedenspolitik.

Zum Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine im Februar bereiten Sie Friedensaktionen vor. Was ist geplant?

Die DFG-VK unterstützt den Aufruf »Stoppt das Töten in der Ukraine – für Waffenstillstand und Verhandlungen!«. Darin benennen wir Russland als völkerrechtswidrigen Aggressor. Wir bekennen uns zu diplomatischen Initiativen, einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Am Aktionswochenende vom 24. bis 26. Februar werden bundesweit gewaltfreie Proteste stattfinden.

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e. V. (DFG-VK)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Josie M. aus 38448 Wolfsburg (13. Januar 2023 um 12:16 Uhr)
    Ich teile die Kritik der Kommentatoren insbesondere wegen der folgenden Aussage des hier interviewten »Friedensaktivisten«: »Solange das Regime Putin die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion weiter Teile des Ostens und Südens der Ukraine zur Voraussetzung für Friedensverhandlungen macht, kann es diese nicht geben. Solange die Regierung Selenskij die Rückeroberung eines jeden Quadratmeters besetzten bzw. annektierten Landes als Voraussetzung benennt, kann es ebenfalls keine geben.« – Denn ich frage mich, nur noch als Beispiel, wie man als Friedensaktivist bei einer gewissenhaften Recherche unter anderem die Tatsache übersehen kann, dass selbst hochrangige US-Militärs gelegentlich zugeben, dass sowohl auf der Krim wie auch im Donbass überwiegend russischstämmige oder Russland-freundliche Menschen leben bzw. lebten, wenn sie von den Angriffen der »Asow«-Batallione oder denen von mit ihnen sympathisierenden Hooligans wie im Mai auf der Krim nicht bereits ausgelöscht wurden? Nur aus purem Opportunismus, weil man sonst gar nicht mehr gehört wird?
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (13. Januar 2023 um 13:55 Uhr)
      Liebe Josie, wollen wir wirklich die Fehler der deutschen Arbeiterbewegung Anfang der 30er Jahre wiederholen und uns angesichts größter Gefahren darum streiten, wer von uns als Bündnispartner akzeptiert würde und wie er denn zu denken hätte? Wird der Krieg in der Ukraine nicht gestoppt, hat er das Zeug dazu, in einer atomaren Katastrophe zu enden. Ist es da nicht besser, wir denken im Kampf um den Frieden weniger an das Trennende und mehr an das Verbindende? Mir wären Millionen Menschen auf den Straßen, die ein Minimalkonsens vereint, tausendmal lieber als ein Häufchen Unentwegter, auf die ohnehin keiner hört, weil sie für Gespräche Vorbedingungen stellen. Die Lehre von damals war: Sektierertum kann tödlich sein. Etwas besser zu wissen ist gut, Besserwisserei vor nötige gemeinsame Aktion zu setzen ist es nicht. Herzlich J.S.
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (13. Januar 2023 um 15:36 Uhr)
        In den Kommentaren wird die Situation dargestellt wie sie ist. Was soll der Vorwurf des Sektierertums? Der Minimalkonsens »Krieg finde ich gar nicht gut« hilft im Endeffekt den Aggressoren, also der Nato.
        • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (14. Januar 2023 um 17:36 Uhr)
          Es kommt nicht darauf an, lupenreine Analysen zu erstellen, sondern Handeln zu erzeugen. Wirksames Handeln bedarf der Massen, sonst hat es keine Chance. Wie aber sollen wir die Massen gewinnen, wenn wir sie nicht dort abholen, wo sie sich gerade befinden? Ihnen unsere Wahrheiten um die Löffel zu hauen, wird nicht genügen. Wenn wir es nicht vermögen, geduldig und beharrlich nach möglichen Übereinstimmungen zu suchen, schweben wir immer in der Gefahr sektiererischer Enge. Davor wollte ich warnen. Denn schlimmer als Sektierer bezeichnet zu werden ist, wenn man es ist, ohne es zu bemerken.
  • Leserbrief von Dr. Wolfgang Doster aus Erding (13. Januar 2023 um 09:23 Uhr)
    Dieses Interview mit J. Grässlin ähnelt stark dem hier leider nicht mehr zitierten Interview mit dem Anti-SIKO-Chef Claus Schreer vom 11.1. Solange die Friedensbewegung mit Mainstream-NATO-Parolen wie »dem durch nichts zu rechtfertigenden völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands« zum Widerstand gegen Waffenlieferungen aufruft, blockiert sie sich selbst und bleibt unglaubwürdig (Buttkewitz). Hier handelt es sich um eine Vorverurteilung Russlands. Ob die Militäraktion ein Angriffskrieg oder auch nur völkerrechtswidrig war, steht nicht fest. Im Völkerrecht gibt es das Recht zur Selbstverteidigung auch mit Waffen. Die »Annexion der Ostgebiete« erfolgte nach einer Volksabstimmung, das Selbstbestimmungsrecht ist Teil des Völkerrechts. Inzwischen gibt es immer eindeutigere Beweise, dass dieser Krieg lange von den USA vorbereitet wurde. Der Krieg begann 2014 mit dem US gestützten Staatsstreich und der Militäraktion gegen die Zivilbevölkerung im Donbass. Dieser Konflikt sollte mit dem Minsker Abkommen befriedet werden. Jetzt stellt sich heraus, dass dieses vom Sicherheitsrat bestätigte Abkommen völkerrechtswidrig von Deutschland und Frankreich mit der Ukraine gebrochen wurde, damit Putin nicht gleich einmarschiert. Die Ukraine wurde seit 2014 als waffenstarrendes Bollwerk der NATO für den beschlossenen Krieg gegen Russland aufgerüstet. Der Krieg wurde vom Westen schon 2014 für unvermeidlich gehalten, wie Angela Merkel bestätigte. Die NATO hatte alle Verhandlungen und Sicherheitsgarantien abgelehnt. Allein die Zusicherung, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen würde, hätte den Krieg verhindert. Henry Kissinger hat den US-Plan von einer Zerschlagung des russischen Staates zugegeben. Es geht um die Verteidigung der russischen Staatlichkeit, nicht um die der Ukraine. Der Westen wollte diesen Krieg und hat ihn herbeigeführt. Er verhindert, dass er beendet werden kann. Dieser Krieg ist einzig im Interesse der Hegemonialmacht USA, das weiß selbst der Trigema-Chef W. Grupp.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (13. Januar 2023 um 11:15 Uhr)
      Sehr gut, Herr Dr. Doster, vor allem viel zu selten präsent, wenn es drauf ankommt! Hab gestern in den Tagesthemen von Frau Dröge gelernt, dass dieser Putin dafür verantwortlich ist, wenn Greta umsonst nach NRW kommt. Es spielt keine Rolle, ob Heinz Kissinger (sein wahrer Name) oder Zbigniew Brzezinski – davon gehe ich aus – in dieser Orientierung federführend war. M. E. spielt die Jahreszahl 2014 eher eine nebensächliche Rolle, aber wird mit Frau Nulands Äußerung (»F… the EU!«) blendend dargestellt. Danke!
  • Leserbrief von Franz Lindlacher aus 83224 Staudach (13. Januar 2023 um 06:44 Uhr)
    Das Interview zeigt sehr deutlich, dass der DFG-VK längst die fortschrittlichen, friedenspolitischen Positionen verlassen hat. Wer sich über Frau Baerbock noch Illusionen macht, dem ist nicht mehr zu helfen. Eine Zusammenarbeit mit dieser Organisation bringt uns nicht voran. Klare Kante ist das Gebot der Stunde.

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