»Frankreich wird stillstehen«
Von Hansgeorg Hermann, Paris
Rente erst mit 64 Lebensjahren, mindestens 43 Jahre Beitragspflicht, ab September Beginn einer »progressiven Erhöhung« des Eintrittsalters um jährlich drei Monate bis 2030: Die »Reform« der Altersversorgung, die Élisabeth Borne, Premierministerin des rechten Staatschefs Emmanuel Macron, am Dienstag abend in Paris ankündigte, stößt auf harschen Protest der französischen Lohnabhängigen und ihrer Organisationen. Bereits ab dem nächsten Donnerstag, dem 19. Januar, wollen die vereinigten Gewerkschaften des Landes und die linke parlamentarische Opposition den Widerstand gegen Macrons Gesetzentwurf auf die Straßen des Landes tragen. »Frankreich wird stillstehen«, erklärte CGT-Gewerkschaftsführer Philippe Martinez am selben Abend vor Journalisten.
Nach endlosen Gesprächen mit dem Präsidenten und seiner Regierung, die sich über Monate hingezogen hätten, sahen Martinez und Laurent Berger, Chef der christlich orientierten Gewerkschaft CFDT, keine Möglichkeit mehr, den Konflikt zwischen den Lohnabhängigen und den Verfechtern von Macrons rechtsliberaler Agenda am Verhandlungstisch beizulegen. »Sie haben einfach nicht zugehört«, bedauerte Martinez. Bei einem gemeinsamen Auftritt am Dienstag abend in Paris bezeichneten Vertreter der acht großen französischen Gewerkschaften Macrons Rentenpläne in einem Kommuniqué als »Peitschenschlag«, der »die gesamte arbeitende Bevölkerung« treffe. Insbesondere richte sich der Gesetzentwurf der Regierung »gegen jene, die von jungem Lebensalter an arbeiten mussten, gegen die Ärmsten und gegen jene, deren beschwerlicher Beruf keine Anerkennung findet«.
Zu befürchten sei, dass durch Macrons »Reform« ein »Heer von Arbeitslosen« entstehen werde – aus älteren Beschäftigten nämlich, die bei sogenannten Umstrukturierungen in den Betrieben als erste aussortiert würden. Auch deshalb verlangten Gewerkschaften und Opposition keine Erhöhung, sondern vielmehr die Herabsetzung des Eintrittsalters von bisher 62 auf 60 Lebensjahre.
Auch die Linke, deren Spitzen sich am Dienstag abend in der Hauptstadt versammelt hatten, kündigte Widerstand gegen Macrons Gesetzespaket an. Die von Borne vorgestellte »Reform«, mit der sich am 23. Januar in erster Lesung die Nationalversammlung beschäftigen soll, sei »antifeministisch, antiökologisch und gegen die Armen gerichtet«, erzürnte sich Mathilde Panot, die im vergangenen Frühjahr Jean-Luc Mélenchon als Anführerin der linken parlamentarischen Opposition abgelöst hatte. Alle Parteien, die sich vor der Parlamentswahl im vergangenen Juni zur Nouvelle union populaire écologique et sociale (NUPES) zusammengeschlossen hatten, werden sich nach Panots Angaben dem Widerstand gegen Macrons politische Agenda nicht nur anschließen, sondern ihn auch selbst organisieren. Ihre Bewegung La France insoumise (LFI) habe bereits für den 21. Januar zu landesweitem Streik und Straßenprotest aller Berufsgruppen aufgerufen.
Folgt man den von verschiedenen demoskopischen Instituten in den vergangenen Wochen veröffentlichten Umfrageergebnissen zu Macrons Rentenplänen, dann dürften dem Präsidenten bewegte Tage, Wochen oder gar Monate bevorstehen. Eine von der Pariser Tageszeitung Libération im Dezember bei Viavoice in Auftrag gegebene Untersuchung ermittelte eine breite Bevölkerungsmehrheit gegen den Gesetzentwurf. »77 Prozent der Handwerker und Dienstleister« lehnen demnach die »Reform« ebenso ab wie »Teilzeitbeschäftigte (72 Prozent) und selbst Angestellte in Führungspositionen (60 Prozent), die zunächst weniger betroffen sein dürften«.
Bornes Versprechen, den Gesetzentwurf der Regierung von der Nationalversammlung absegnen zu lassen, obwohl sie dort keine Mehrheit mehr hat, gründet auf der Annahme, dass die bürgerliche Rechte schon zustimmen wird. Éric Ciotti, der neue Chef von Les Républicains (LR), beugte in der Rentenfrage tatsächlich das Knie vor dem Herrscher im Präsidentenpalast Élysée. Am späten Dienstag abend und nach stundenlangem Schweigen schickte er seinen Parteisekretär Aurélien Pradié zu den Journalisten – um erklären zu lassen, dass die LR-Fraktion den Entwurf, ergänzt durch einige Änderungsanträge, abnicken will.
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