Königsmacher droht Ende
Von Nick Brauns
Der zweitstärksten Oppositionspartei in der Türkei droht noch vor den spätestens im Juni stattfindenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ein Verbot. Am Dienstag bekräftige Generalstaatsanwalt Bekir Sahin in seinem Schlussplädoyer vor dem Verfassungsgericht seine Forderung nach Schließung der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Das Verbotsverfahren gegen die linke, vor allem unter Kurden verankerte Partei, die 2018 noch 11,6 Prozent – das sind rund sechs Millionen Wählerstimmen – erhalten hatte, läuft seit 2021. In der Anklageschrift wird ihr »Terrorismus« vorgeworfen, sie sei der parlamentarische Arm der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Die HDP sei auf »organische Weise« mit der PKK verbunden, behauptete Sahin, sie operiere »fast wie ein Rekrutierungsbüro« der PKK.
Neben dem Parteiverbot fordert die Anklage ein fünfjähriges Politikverbot für rund 450 führende Mitglieder und Funktionäre. Ende vergangener Woche hatte das Verfassungsgericht bereits mit acht zu sieben Stimmen den vorläufigen Ausschluss der HDP von der staatlichen Parteienfinanzierung beschlossen. Zudem wurden die Bankkonten der Partei eingefroren. Nach dem Plädoyer des Generalstaatsanwalts hat die HDP jetzt 30 Tage Zeit, abschließend Stellung zu den Vorwürfen zu beziehen. Dann wird der zuständige Berichterstatter aus dem Richterkollegium eine Entscheidung vorbereiten, nach der das Gericht sein Urteil fällen kann. Für ein Verbot ist eine Zweidrittelmehrheit der Richter notwendig.
Mit der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) und weiteren sozialistischen Parteien hat die HDP ein Bündnis für Arbeit und Freiheit gebildet, das sich als dritter Pol zwischen dem islamistisch-faschistischen Regierungslager aus AKP und MHP und einem oppositionellen Sechsparteienbündnis um die kemalistische CHP und die MHP-Abspaltung Iyi-Partei versteht. TIP-Sprecherin Sera Kadigil versicherte am Dienstag, ihre Partei und die Partei der Arbeit (EMEP) ständen im Falle eine HDP-Verbots für eine Wahlteilnahme bereit. Mit der Linksgrünen Partei wurde zudem bereits eine HDP-Nachfolgepartei »auf Vorrat« gegründet – kein unübliches Vorgehen im Parteienfriedhof Türkei.
Mit ihrer Entscheidung, einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, hat die HDP unterdessen die politische Landschaft der Türkei aufgerüttelt. »Wir werden bald unseren Kandidaten benennen und an den Wahlen teilnehmen«, verkündete die Kovorsitzende Pervin Buldan am Samstag auf einer Parteiveranstaltung in Kars. Bislang war spekuliert worden, die HDP würde einen gemeinsamen Oppositionskandidaten gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan unterstützen. Umfragen sehen die Regierungsallianz und das Oppositionsbündnis, das seinen Kandidaten noch nicht benannt hat, bei jeweils rund 40 Prozent. Die HDP und die von ihr repräsentierten kurdischen Wähler gelten daher als Königsmacher.
Zwar schließt der Beschluss einer eigenen Kandidatur eine taktische Unterstützung für einen Oppositionskandidaten im Falle einer wahrscheinlichen Stichwahl in der zweiten Runde nicht aus. Doch Ideologen aus dem Spektrum der kemalistisch geprägten »nationalen Linken« wie der Journalist Merdan Yanardag beschuldigen die HDP, das Oppositionslager zu schwächen und gemeinsame Sache mit der AKP zu machen.
Niemand sei bereit gewesen, mit der HDP zu sprechen, begründete deren Vizefraktionsvorsitzende Meral Danis Bestas die Entscheidung ihrer Partei. Die Kurden wollten nicht länger im Nebenzimmer warten, erklärte der seit sechs Jahren inhaftierte frühere HDP-Präsidentschaftskandidat, Selahattin Demirtas, am Mittwoch in einem Beitrag für die Nachrichtenseite T24. Ein Kandidat des Sechserblocks müsse sich mit der ganzen Opposition zusammensetzen und über die Prinzipien von Demokratie und Transparenz sprechen, um Kandidat des Volkes werden zu können.
Sollte die HDP doch noch eingeladen werden, wie es Politiker der kleinen AKP-Abspaltung DEVA vorgeschlagen hatten, würde Iyi den Sechsertisch verlassen, hatte dagegen der Iyi-Politiker Ümit Özlale am Dienstag abend die »rote Linien« der oppositionellen Faschisten formuliert.
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