Rechtes Auge zugedrückt
Von Kristian Stemmler
Schon lange muss sich die Thüringer Justiz den Vorwurf gefallen lassen, Neonazis mit Samthandschuhen anzufassen. An diesem Donnerstag beginnt nun ein Prozess vor dem Landgericht Erfurt, bei dem es um den brutalen Angriff auf eine Gruppe junger Leute am Erfurter Hirschgarten – der Platz vor der Staatskanzlei – im Juli 2020 geht. Es handelt sich um das vierte Verfahren zu dem Vorgang. Bereits im Sommer und Herbst 2022 hatte es Verhandlungen vor dem Jugendschöffen- sowie Amtsgericht gegeben, die mit relativ milden Strafen endeten. Wie die Opferberatungsstelle Ezra in einer Mitteilung vom Montag kritisierte, spielte das rechte Tatmotiv des Überfalls dabei kaum eine Rolle.
Das Motiv für den Angriff ist indes schwer zu übersehen. Nach Recherchen von Antifagruppen sind die Angeklagten in dem nun beginnenden Verfahren – Nico Julian Moritz F., Philippe A., Robert B., Kevin J. und Robin C. – zumindest zum Teil der Szene militanter Neonazis zuzuordnen. Sie müssen sich unter anderem wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 2020 eine Gruppe von mindestens 20 jungen Menschen, die friedlich am Erfurter Hirschgarten feierten, überfallen zu haben.
Die Täter waren teilweise vermummt und gingen mit großer Brutalität vor. Sie traten etwa auf am Boden liegende Personen ein. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Die Tat zeugte nicht nur von einem planvollen Vorgehen, sondern auch von einer geringen Hemmschwelle. Die Täter fühlten sich offenbar so sicher, dass sie den Übergriff unter den auf dem Platz vor der Staatskanzlei installierten Überwachungskameras verübten.
Nicht zum ersten Mal sorgte die Öffentlichkeitsarbeit von Thüringer Behörden und die Berichterstattung bürgerlicher Medien für eine Täter-Opfer-Umkehr. So sprach die Polizei in ihrer ersten Meldung von einer »Auseinandersetzung zweier Gruppen«, in der Presse war von einer »Massenschlägerei« die Rede. In rechten Kreisen und sozialen Netzwerken wurde gar die Behauptung verbreitet, bei den Tätern habe es sich um Migranten gehandelt.
Offenbar waren auch die Ermittlungen von dem Bemühen geprägt, den rechen Hintergrund der Attacke auszublenden. Ein halbes Jahr nach dem Überfall ließ ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Erfurt verlauten, Hinweise auf einen solchen Hintergrund hätten sich nicht bestätigt. Er sprach von Verfahren gegen mittlerweile 15 Tatverdächtige, nachdem die Ermittler zuerst von zwölf Tätern ausgegangen waren.
Trotz dieser Vorgeschichte hoffen Antifaschistinnen und Antifaschisten, dass vor dem Landgericht Erfurt jetzt auch die Hintergründe der Tat zur Sprache kommen. An das anstehende Verfahren knüpften sich viele Erwartungen, erklärte Theresa Lauß, Beraterin bei Ezra, laut der Mitteilung vom Montag. Es bleibe zu hoffen, »dass die Justiz nun ihrer Verantwortung nachkommt und den Vorfall und ein vermutetes rechtes Motiv allumfassend aufklärt und in der Strafzumessung berücksichtigt«.
Dass bei einem »brutalen Gewaltexzess«, wie er vor der Thüringer Staatskanzlei geschehen sei, ein mögliches rechtes Tatmotiv nicht untersucht werde, sei »für uns als spezialisierte Beratungsstelle nicht nachvollziehbar«, so Lauß. Die Ezra-Mitarbeiterin verwies darauf, dass in den zurückliegenden Verfahren ein Polizeibeamter bestätigt habe, dass die Beschuldigten sich teilweise selbst als rechtsnational und die Betroffenen dem »linken Milieu« zugeordnet hätten. In dem Verfahren sind bisher elf Verhandlungstage bis in den März angesetzt. Der zweite ist für den 20. Januar geplant.
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