»Das Auswärtige Amt übernimmt Ankaras Version«
Interview: Gitta Düperthal
Internationale Organisationen für Ärztinnen und Ärzte, in der BRD unter anderem der VDÄÄ und die IPPNW, fordern, die Anklage gegen die Präsidentin der türkischen Ärztekammer Korur Fincanci in der Türkei fallen zu lassen und sie freizulassen. Was wird ihr vorgeworfen?
Das vorgeschobene Argument der Generalstaatsanwaltschaft Ankara ist, man habe Korur Fincanci wegen Propaganda für eine Terrororganisation festgenommen, gemeint ist die PKK. Es geht darum, dass es Berichte aus dem Nordirak gibt, dass die türkische Armee bei ihren seit vielen Jahren andauernden völkerrechtswidrigen Angriffen auch Giftgas einsetzt. Weil dies unabhängig und international bislang nicht untersucht ist, forderte unsere Kollegin es ein. Diese Forderung, die aus unserer Sicht zu unterstreichen ist, wird ihr jetzt als Terrorpropaganda ausgelegt. Wir sind auch nicht allein damit, ihre sofortige Freilassung zu fordern. Unter anderem haben auch die Bundesärztekammer, Landesärztekammern und der Weltärztebund sehr schnell nach ihrer Verhaftung am 27. Oktober 2022 so reagiert.
Wie ist der Stand des Verfahrens in der Türkei?
Korur Fincanci sitzt seit Oktober in Untersuchungshaft im Gefängnis, obgleich sie gesundheitlich angeschlagen ist. Ihre Verhaftung stellt einen Angriff auf das Recht zur freien Meinungsäußerung und auf die ärztliche Selbstverwaltung dar, mögliche Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren. Obendrein ist sie bereits seit 2018 zur Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, weil sie den gemeinsamen Aufruf der »Akademiker für den Frieden« im Jahr 2016 mitunterzeichnet hatte. Diese Initiative wendete sich gegen das Vorgehen des türkischen Militärs im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, welches Ausgangssperren verhängte und brutal gegen die Zivilbevölkerung vorging. Dieses Urteil ist nicht rechtskräftig. Auch hierbei geht es einzig um eine Meinungsäußerung.
Im Dezember wandten sich der VDÄÄ und die IPPNW mit einem Schreiben an das Auswärtige Amt und an die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, sich der Forderung nach ihrer Freilassung anzuschließen. Im Antwortschreiben wird dies abgelehnt und statt dessen an die türkische Regierung appelliert: Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei ein »äußerst hohes Gut« und »beinhalte auch das Recht, sich öffentlich zu irren«. Wie werten Sie diese Reaktion?
Das ist absurd. Die Kollegin hatte sich zu den Giftgasangriffen gar nicht positioniert, sondern nur eine unabhängige Untersuchung dazu gefordert, also kann sie sich gar nicht irren. Das Antwortschreiben in ist weiterer Hinsicht problematisch; wenn darin »ein rasches, rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren« gefordert ist: Da müssen der Außenministerin und dem Auswärtigen Amt offenbar Entwicklungen in den vergangenen Jahren in der Türkei entgangen sein. Dort gibt es seit Jahren in politischen Prozessen keine Rechtsstaatlichkeit.
Inhaltlich geht es im Antwortschreiben um den Widerspruch: Die türkische Regierung bestreitet, dass Chemiewaffen zum Einsatz kamen und behauptet, bei Angriffen gegen ein Gefangenenlager der PKK im Februar 2021 in Gare im Nordirak mit Tränengas vorgegangen zu sein. Wie ist das aus Ihrer Sicht einzuordnen?
Das Problem dabei ist doch: Das Auswärtige Amt konnte sich nicht dazu durchringen, die Fakten, die in einer Studie von IPPNW dazu genannt sind, überprüfen zu lassen, sondern übernimmt uneingeschränkt die Darstellung der türkischen Regierung und des Militärs. Es greift die Studie an, die IPPNW hätte deren Erklärung, dass es Tränengas gewesen sei, nicht aufgenommen. Was nicht stimmt, es ist darin erwähnt.
Weshalb vermeiden das Auswärtige Amt und Baerbock eine klare Stellungnahme zu Fincanci, obgleich doch bekannt ist, dass wegen angeblicher Propaganda für eine Terrororganisation Tausende Oppositionelle in türkischen Gefängnissen sitzen?
Wenn man dort nur sehr halbherzig für die Kollegin eintritt, die man ansonsten als große Menschenrechtsverteidigerin einstuft, und sich statt dessen auf die Seite des Regimes schlägt, ist dazu nur zu sagen: Von einem Außenministerium, das mit dem Label »wertebasierter Außenpolitik« für sich wirbt, wäre anderes zu erwarten.
Bernhard Winter ist Arzt und Kovorsitzender des »Vereins demokratischer Ärzt*innen (VDÄÄ*)«
Drei Wochen kostenlos lesen
Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.
Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.
-
Leserbrief von B. Schroeder aus Apen (11. Januar 2023 um 09:45 Uhr)Baerbocks »Ministerium für Lug und Trug« ist sich für keine Ausrede zu schade. Schon gar nicht, wenn es sich um Nationalisten und Faschisten handelt. Was brauchen wir noch die AfD, wenn Die Grünen und der Rest der Parteien es besser machen? Konservative Politiker haben den Aufstieg von Adolf H. erst möglich gemacht … Wir können nur hoffen, dass die Demokratie in der Türkei nicht schleichend abgewürgt wird. Denn Hilfe von Baerbock und den ihrigen wird es nicht mehr geben. Deren Hauptziel sind und bleiben, als »Treuer Vasall der Anglo-Amerikaner«, die Welt ins Elend zu stürzen. »Koste es, was es wolle …!«
Ähnliche:
- Firas Makdesi/REUTERS28.12.2022
Verfall eines Landes
- Franz Gustincich/CSP/imago28.12.2022
Ankara zieht sich zurück
- Charles M. Vella/ZUMA Wire/imago09.11.2022
Gegen das Schweigen
Regio:
Mehr aus: Inland
-
Lützerath eingekesselt
vom 11.01.2023 -
Lützerath unter Belagerung
vom 11.01.2023 -
Frankfurter Forst vor Vernichtung
vom 11.01.2023 -
Nichts zu verlieren
vom 11.01.2023 -
Lauterbach macht Bayer froh
vom 11.01.2023 -
»Es gab genug Chancen, aber sie wurden vertan«
vom 11.01.2023