Rückkehr der »Gelbwesten«
Von Jörg Tiedjen
Sie sind der Schrecken der Regierung Macron: die »Gilets jaunes« oder »Gelbwesten«. Am Sonnabend folgten Anhänger der Protestbewegung in ganz Frankreich einem im Internet verbreiteten Aufruf, wobei der Schwerpunkt in der Hauptstadt Paris lag. Das Innenministerium sprach von einer schwachen Beteiligung. Insgesamt seien »nur« 4.700 Personen dem Aufruf gefolgt, davon 2.000 allein in Paris. In Fernsehberichten war zu sehen, wie kleine Gruppen von »Gelbwesten« etwa in der Stadt Besançon Kreisverkehre besetzt hielten.
Auf Plakaten war von einem »Ausnahmezustand beim Klima und im Sozialen« die Rede. Protestiert wurde gegen die Inflation und die Kahlschlagpolitik etwa im Gesundheitswesen. Slogans richteten sich vor allem gegen Präsident Emmanuel Macron. Die Demonstrantin Hasna Kenider, eine Angestellte in der Verwaltung, sagte gegenüber AFP: »Es gibt keine öffentlichen Dienste mehr. Die Krankenhäuser – man muss Angst haben, dorthin zu gehen. Auch will ich nicht arbeiten, bis ich 64 bin.« Eine weitere Demonstrantin beklagte, dass in Frankreich Zustände »wie in der ›dritten Welt‹« einkehrten. Ein Demonstrant gab an, dass er seit vier Jahren dabei sei, aber sich nichts geändert habe. Es gehe darum, die Politik anzugreifen, die den Sozialstaat zerstöre.
Wie groß die Angst der französischen Regierung vor der »Gelbwesten«-Bewegung ist, zeigte das Polizeiaufgebot in der Hauptstadt. Obwohl die Demonstranten sich friedlich verhielten, wurden sie mit Reizgas traktiert. In den französischen Medien waren die Proteste vom Sonnabend allenfalls ein Randthema. Größere Aufmerksamkeit wurde etwa Kurden zuteil, die Aufklärung forderten über die tödliche Attacke auf ein Kulturzentrum.
Die »Gelbwesten«-Bewegung war Ende des Jahres 2018 entstanden. Auslöser war eine geplante Sonderabgabe auf Kraftstoffe. Viele Franzosen sind darauf angewiesen, mit dem eigenen Auto zur Arbeit zu fahren. In Verbindung mit einer damals schon grassierenden Teuerung bei stagnierenden Löhnen war die in Aussicht gestellte Zusatzsteuer der »Tropfen zuviel«.
Auch damals waren es zunächst nur wenige tausend Personen, die den Aufrufen der »Gelbwesten« folgten. Dabei schreckte ein harter Kern vor Gewaltanwendung nicht zurück und lieferte sich regelrechte Straßenschlachten mit der in Frankreich traditionell rücksichtslos vorgehenden Polizei. Auf den Champs-Élysées oder am Triumphbogen in der Hauptstadt richteten militante »Gelbwesten« regelmäßig Schäden an. Von linken Parteien und den Gewerkschaften wurde die Bewegung nur zögerlich ernstgenommen. Bedenken gegenüber den »Gelbwesten« wurden erneut laut, als bekannte Vertreter wie etwa die Therapeutin Jacline Mouraud sich zu Verschwörungsmythen bekannten, wie sie zum Beispiel bei Anhängern des US-amerikanischen Expräsidenten Donald Trump beliebt sind.
Dabei waren die Aktionen der »Gelbwesten« effektiv. Zwar blieb die Regierung bei ihrem harten Kurs gegenüber der Bewegung. Gleichwohl wurde das Vorhaben, die Kraftstoffe zu verteuern, wieder fallengelassen, es gab einen Aufschlag auf den Mindestlohn und Steuererleichterungen für Rentner. Doch durch die gegenwärtige, durch die Strafmaßnahmen gegen Russland befeuerte Inflation hat sich die Lage erneut verschärft und lässt sich auch nicht mehr durch eine »Politik der Schecks« bewältigen, also staatliche »Hilfen«, durch die Lohnabhängige angesichts steigender Kosten stillgehalten werden sollen.
»Unsere Bewegung wird mit der Rentenreform wieder an Fahrt gewinnen«, gab sich die Demonstrantin Hasna Kenider überzeugt. Dieses Steckenpferd der neoliberalen Macron-Regierung soll in Grundzügen an diesem Dienstag von Premierministerin Élisabeth Borne in Paris vorgestellt werden. Die »Gelbwesten« aber wollen weitere Kürzungen im Sozialen nicht hinnehmen und ihren wöchentlichen Protest wiederaufnehmen. Für den 21. Januar ist ein landesweiter Aktionstag geplant, auch ist die Rede von einem Generalstreik.
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