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Aus: Ausgabe vom 07.01.2023, Seite 5 / Inland
Vermeintlicher Klimaschutz

Kehre zur Verklappung

Wie Wirtschaftsminister Habeck das Geschäft mit CO2-Speicherung im Meer entdeckte, das er lange bekämpft hat
Von Burkhard Ilschner
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Hut ab! Minister Habeck lässt sich am Freitag bei einem Tochterunternehmen von Heidelberg Materials von CCS-erfahrenen Norwegern auf den neuesten Stand bringen

»Erstaunlich« ist nichts an der »erstaunlichen Kehrtwende«, die viele Medien in diesen Tagen zum wiederholten Male Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) bescheinigen: Am Donnerstag abend zum Beispiel staunte der NDR in einem Bericht über Habecks Besuch in Norwegen, der Minister lasse sich dort »die umstrittene CCS-Technik vorführen«. Die Abkürzung steht für »Carbon Capture and Storage« und bezeichnet ein Verfahren, mit dem bei industriellen Prozessen entstehendes Kohlendioxid aus den Abgasen separiert wird, um es dann als angebliche Klimaschutzmaßnahme in unterirdische oder unterseeische »Endlager« zu verpressen.

Im Megatonnenmaßstab

Habeck und CCS? Lange schien das ein unversöhnlicher Gegensatz. Vor knapp 15 Jahren versuchte die CDU-SPD-Bundesregierung, die CCS-Technologie in Deutschland möglich zu machen. Es gab erheblichen Widerstand von Bürgerinitiativen, Umweltverbänden und den oppositionellen Grünen. Damals wie heute wurde und wird befürchtet, der Verpressungsdruck des CO2 könne Schadstoffe im Lagergestein freisetzen und Grundwasser oder Umwelt schädigen. »Saubere« Separierung wird angezweifelt und der Wiederaustritt des verpressten Gases durch Leckagen befürchtet, was die teure »Klimaschutz«-Maßnahme absurd machen würde. In Nordwestdeutschland war der Widerstand besonders groß, weil es dort ausgebeutete Erdgaslagerstätten gibt, die für CCS als geeignet gelten.

Habeck – damals in Schleswig-Holstein Oppositionsführer, ab 2012 dann stellvertretender Regierungschef – hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die Nutzung der CCS-Technologie vor gut zehn Jahren durch das Kohlendioxid-Speicherungsgesetz (KSpG) stark eingeschränkt wurde. Allerdings sieht das KSpG ausdrücklich regelmäßige Evaluierungen vor – und die jüngste, veranlasst durch Habeck als Bundesminister, führte im Dezember 2022 zu einem Ergebnisbericht, der »schon ab 2030 (…) die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS) ›im Megatonnen-Maßstab‹ vor allem für die Industrie« empfiehlt, wie das Handelsblatt am 8. Dezember 2022 schrieb. »Kehrtwende« eben – höchste Zeit, sich bei den seit rund 25 Jahren CCS-erfahrenen Norwegern auf den neuesten Stand bringen zu lassen.

Gerichtet ist das ministerielle Interesse nicht zuletzt auf die Nordsee: Während das KSpG bei CCS-Projekten an Land den jeweiligen Bundesländern unmittelbare Mitsprache einräumt, unterliegen die Meeresgebiete der alleinigen Bestimmungsgewalt des Bundes. Gerd-Christian Wagner, seit 2006 ununterbrochen amtierender Bürgermeister der friesländischen Stadt Varel und Vorsitzender der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste (SDN), macht das wütend: Die Absicht des Bundes, »CO2 zukünftig unter der Nordsee deponieren zu wollen«, sei – wie der Umgang mit dem Hamburger Hafen-Schlick – nur »eine weitere Art der Müllbeseitigung im Sinne von ›aus den Augen, aus dem Sinn‹«, heißt es in einer Pressemitteilung der SDN. Es gelte, den Ausstoß des Klimagases zu vermindern, und nicht, das Problem per kosten- und energieintensiver, unsicherer Einlagerung den kommenden Generationen zu übermachen. Die Nordsee, so Wagner, sei schließlich heute schon als Industriegebiet deutlich übernutzt.

Phantasien der Industrie

Zahlreiche Sicherheitsbedenken gegenüber der Technologie konnten in mehr als zehn Jahren nicht glaubhaft ausgeräumt werden. 2011 hatte eine SDN-Mitgliederversammlung eine Resolution gegen CCS-Vorhaben im Meer verabschiedet und – wie etliche andere Organisationen auch – ein komplettes Verbot gefordert. So war jener zivilgesellschaftliche Druck aufgebaut worden, der CCS damals blockieren half. Sehr zum Leidwesen der Industrie, die nach wie vor auf massive Subventionen hofft und in CCS ein gutes Geschäft wittert. Deshalb bringt Habecks »Kehrtwende« jetzt nicht nur die SDN in Rage, auch der Umweltverband BUND verlangte Ende 2022 bereits »uneingeschränkten Schutz für die Meere«; die Bundesregierung dürfe »den klimaschädlichen Phantasien der Industrie nicht nachgeben«.

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