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Aus: Ausgabe vom 05.01.2023, Seite 10 / Feuilleton
Popkultur

Der große Entdecker

Zum Tod des Musikers und Produzenten Sam Phillips
Von Andreas Hahn
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Sam Phillips bei der Feier zum 50. Geburtstag des von ihm gegründeten Labels Sun Records (8.5.2002)

Dass Sam Phillips irgendwann Musikgeschichte schreiben würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Er wuchs in Alabama in einfachen Verhältnissen als Sohn von Farmern auf. Wie so oft stand am Beginn eine wundersame Begegnung. Als Sam Phillips sechs Jahre alt war – es soll, kurz vor jenem berüchtigten »Schwarzen Freitag«, dem 25.Oktober 1929, gewesen sein – schafften sich Sam Phillips’ Eltern ihren ersten Plattenspieler an. Sie hatten, berichtet sein Biograph Peter Guralnick, noch Geld für eine einzige Schallplatte übrig. Die mystische Begegnung: Sie erstanden »Waiting for a Train« von Jimmie Rodgers. Guralnick: »Obwohl ­Rodgers inzwischen gemeinhin als ›Vater des Country‹ gilt, war der Song ein Blues, tiefgreifend in seinen Bildern von Ablösung und Verlust, aber auch unheimlich in seiner Antizipation der Großen Depression.« Dieser unheimliche Raum zwischen Country und Blues war es, der die Neuerungen der von Sam Phillips betreuten Musik ausmachen sollte.

In den 40er Jahren wurde Phillips Radiomoderator, zunächst in Muscle Shoals, Alabama, später kam er als Radiomoderator nach Memphis, wo er sich ein kleines Studio einrichtete und Plattenaufnahmen lokaler Blues- und Countrymusiker produzierte. 1952 gründete Phillips sein inzwischen legendäres Plattenlabel Sun Records, der Grundstein seiner Karriere und einer neuen Popkultur. »Man kann sagen«, schreibt Guralnick, »dass Sam Phillips der Mann war, der den Rock ’n’ Roll entdeckte. Aber noch mehr, er machte es sich zum Lebenszweck, in jedem Künstler einen Raum der Freiheit aufzuschließen, die herausragende Eigenschaft einer Person zu erkennen und dann den Schlüssel dazu zu finden, gleichgültig, ob es sich bei diesem Künstler um Elvis Presley, Howlin’ Wolf, B. B. King oder Johnny Cash handelte.«

Obwohl Phillips für seine Rock-’n’-Roll- und Rockabilly-Produktionen berühmt wurde, hatte sein Herz zunächst für den Blues geschlagen: »Der Blues war bei unseren schwarzen Nachbarn allgegenwärtig. Sie sangen ihn bei der Hausarbeit, beim Wäscheaufhängen, auf dem Feld, einfach überall.« Der die Welt erschütternde Crossover aber gelang Phillips im Juli 1954, als ein gewisser Elvis Presley zusammen mit seinen beiden Mitstreitern Scotty Moore und Bill Black für Sun Records eine Version von Arthur »Big Boy« Crudups Uptempo-Blues »That’s Alright (Mama)« aufnahm. Elvis’ Debütsingle erschien auf Sun noch im selben Monat mit der B-Seite »Blue Moon of Kentucky«. Der Rest ist Geschichte. Im Jahr 2003 starb Phillips im Alter von 80 Jahren. Er wäre am 5. Januar 100 Jahre alt geworden.

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  • Leserbrief von Sarah Rosenstern aus Salzburg / Berlin ( 5. Januar 2023 um 13:25 Uhr)
    Sam Phillips sagte über seine Ziele: »Jeder wusste, dass ich hier unten nur eine kämpfende Katze war, die versuchte, neue und andere Künstler zu entwickeln, etwas Freiheit in der Musik zu erlangen und einige Ressourcen und Leute zu erschließen, die bisher nicht erschlossen wurden.« Phillips kümmerte sich nicht um die Fehler, er kümmerte sich um das Gefühl. Phillips traf Presley durch die Vermittlung seiner Mitarbeiterin beim Memphis Recording Service, Marion Keisker, die bereits eine bekannte Radiopersönlichkeit in Memphis war. Am 18. Juli 1953 kam der achtzehnjährige Presley ins Studio, um zum Geburtstag seiner Mutter eine Platte aufzunehmen. Keisker glaubte, in der Stimme des jungen Lastwagenfahrers Talent zu hören, und schaltete das Tonbandgerät ein. Später spielte sie es Phillips vor, der sich allmählich, mit Keiskers Ermutigung, für die Idee erwärmte, Elvis aufzunehmen. Presley, der seine Version von Arthur »Big Boy« Crudups »That’s All Right« im Studio von Phillips aufnahm, wurde sehr erfolgreich, zuerst in Memphis, dann im ganzen Süden der Vereinigten Staaten. Sänger wie Sonny Burgess, Charlie Rich, Junior Parker und Billy Lee Riley nahmen mit einigem Erfolg für Sun auf, und andere wie Jerry Lee Lewis, BB King, Johnny Cash und Roy Orbison und Carl Perkins wurden zu Stars. Phillips’ zentrale Rolle in den frühen Tagen des Rock ’n’ Roll wurde durch eine gefeierte Jam-Session am 4. Dezember 1956 mit dem, was als Million Dollar Quartett bekannt wurde, veranschaulicht. Jerry Lee Lewis spielte Klavier für eine Aufnahmesession von Carl Perkins in Phillips’ Studio. Als Elvis Presley unerwartet hereinkam, wurde Johnny Cash von Sam Phillips ins Studio gerufen, was zu einer spontanen Session mit den vier Musikern führte. Phillips forderte die vier heraus, goldene Rekordverkäufe zu erzielen, und bot dem ersten einen kostenlosen Cadillac an, den Carl Perkins gewann. 1986 wurde er in die »Rock and Roll Hall of Fame« und 2001 in die »Country Music Hall of Fame« aufgenommen.

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