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Aus: Ausgabe vom 05.01.2023, Seite 10 / Feuilleton
Geisteswissenschaften

Unterwegs im falschen Kiez

Inhaltsarm und praxisgeil: Steffen Martus und Carlos Spoerhase haben eine Praxeologie der Geisteswissenschaften vorgelegt
Von Dirk Braunstein
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Stahlharte Immanenz: So wirst du fit for Geisteswissenschaftlerkarriere

Gewiss löblich, wenn sich die Geisteswissenschaften zu ihrem circa 2.000. Jubiläum zwischendurch beherzt fragen, was sie da so tun, wenn sie tun, was sie so tun. Leider blöd hingegen, dass sie sich bloß geisteswissenschaftliche Antworten zu geben wissen. Denn die Wissenschaften des Geistes sind keine der Gesellschaft, und so wird eine andere Frage, die nach den Voraussetzungen ihres Tuns, gar nicht erst gestellt, sondern es verhält sich urplötzlich »mit den geisteswissenschaftlichen Fächern wie mit Berlin: Wenn es einem dort nicht gefällt, hat man sich einfach im falschen Stadtteil aufgehalten«.

Wer im jüngst erschienenen Buch »Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften« die 37 Seiten der Einleitung »Weshalb über die Praxis der Geisteswissenschaft nachdenken?« liest, mag sich anschließend fragen, weshalb noch die restlichen 563 Seiten lesen? Denn dass ein Aufenthalt, womöglich gar das Leben in Hellersdorf statt in Schöneberg oder Dahlem sich Umständen verdanken mag, die wenig mit Lust, Eignung oder dummem Zufall zu tun haben, viel aber mit der materiellen Ordnung einer Gesellschaft, die unter anderem auch das formiert, was die Autoren Steffen ­Martus und Carlos Spoerhase ungeniert als Geist für sich reklamieren, wird all jenen niemals aufgehen, die fasziniert die »grundsätzliche Pointe« herbeisinniert haben, »dass die akademische Welt unentwegt und meist beiläufig durch soziale Arbeitsaktivität hergestellt und wiederhergestellt wird«. Der Fund wäre freilich noch pointierter, wenn zugleich die Tatsache benannt würde, dass die »akademische Welt« von der zwar außerakademischen, wohl aber realen Gesellschaft mittels realer Arbeit aufrechterhalten – um nicht gleich zu sagen: alimentiert – wird.

Hinten im Saal

Okidoki, die materiellen Voraussetzungen des eigenen Handelns, die angekündigte »Selbstaufklärung der Geisteswissenschaften« gar, sind jetzt mal einfach schnuppe, was bieten die Autoren nun statt dessen auf? Zunächst einmal ein Jargon- und Renommier­geknüppel ohne Sinn und Verstand und leider auch Ende: »Die Perspektive liegt ein wenig anders«, ein »praxeologischer Blick fokussiert Vollzüge«, »wir fokussieren auf den inkorporierenden Charakter von mehr oder weniger artikulierbaren Vollzugskompetenzen«, »das Verstehen vollzieht« sich. Überhaupt wird eine »praxissensible Perspektive« eingenommen, man will »ein Spektrum der Praxis aufzeigen«, aus »einer praxisorientierten Perspektive ›sedimentieren‹ sich Praktiken«. Und ohne Scheu vor Selbstveronkelung stellen die Autoren eiskalt fest: »Bei der Einbettung in ein Praxiskollektiv wird von den Novizen nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern auch ein bestimmtes Wertgefüge inkorporiert.« Dem zu entgehen, wird jeder fühlende Mensch, der noch etwas auf sich hält, dankbar sein. Die Lust zur Entmündigung, wie man sie bei irgendwelchen Veranstaltungen dubioser Managementfiguren vermutet, hier ist sie ganz bei sich. Der leichtfüßige Gang über die eigene Leiche wird als etablierte Praxis des Wissenschaftsbetriebs nicht weiter problematisiert. Ob aber, diese rhetorische Frage sei bittedanke erlaubt, exakt dies für die geistigen Produkte des Betriebs spricht? Lesen Sie selbst: »Eine große Konferenz findet nicht in einem abstrakten Raum statt, sondern in einem Saal, der mit Tischen und Stühlen, vielleicht einem Podium und einem Rednerpult sowie einer Projektionsleinwand ausgestattet ist.« Das ist natürlich erst mal grob korrekt und gilt sogar für kleine Konferenzen, Workshops, Seminare, Vorlesungen und immer so weiter. »Objektgruppen wie z. B. eine bestimmte Anordnung von Tischen und Stühlen lassen ein breites Spektrum von Aktivitäten zu.« Sexualisierte Initiationsrituale mit Novizen? Nein-nein, war nur Spaß! Aber im Ernst: Eine Anordnung kann keine »Gruppen« sein, capito? Und wir sind, wie oben zag geseufzt, noch nicht einmal über die Einleitung hinaus.

Die wiederum wendet sich gegen die Rede von der Krise der Geisteswissenschaften, allerdings lediglich reichlich selbstbezüglich, das heißt, man verwahrt sich gegen die geisteswissenschaftliche Rede von der Krise der Geisteswissenschaften. Mit stahlharter Immanenz wird eine »Könnerschaft« beschworen, die, inhaltsarm und praxisgeil, blanke Affirmation des Bestehenden ist: Wer dabeisein will, »muss auch an der Praxis mitwirken, sich persönlich involvieren und sich für den Fortgang der Praxis gleichsam ›mitverantwortlich‹ fühlen«. Muss also ideologisch denken und handeln, um fit for Geisteswissenschaftlerkarriere zu werden. Wer frisch-fröhlich mitmacht, bewegt sich bei Konferenzen im Zentrum, statt wie die Loser ungekonnt »hinten im Saal sitzen oder an der Seite Platz nehmen, sich unauffällig verhalten und sich nur vorsichtig an den Diskussionen beteiligen« zu müssen.

Irgendwo weiter hinten im Text wird die Rede sein von »asymmetrischen akademischen Beziehungsverhältnissen«. Und was immer auch mit dieser Vokabel angedeutet, aber nicht gesagt sein soll – es darf sich jedenfalls nicht über den Pleonasmus wundern, wer von Abhängigkeit, Ausbeutung und Herrschaft partout nicht sprechen mag. Aber schwerstvermutlich wundert sich ja auch niemand oder will es überhaupt wissen, sondern man will halt einfach sturheil seine Geisteswissenschaften praktizieren, und sei es als Abfassung einer Praxeologie derselben, und damit basta!

Gelebte Praxeologie

Beziehungsweise einer angeblichen Praxeologie, denn eine praxeologische Analyse gegenwärtiger Geisteswissenschaften wird gar nicht erst in Angriff genommen, eher eine Auflistung einiger Praktiken innerhalb der Literaturwissenschaften, die allerdings auch schon etwas altbacken sind, was insofern nicht verwundert, als die Autoren sich einerseits an der intellektuellen Praxis Peter Szondis abrackern, andererseits an Friedrich Sengle.

Wer den nicht kennt, merke nun auf: »Er war ab 1937 Mitglied der NSDAP und von 1939 bis 1945 im Kriegsdienst, wobei (!) er während dieser Zeit weiterhin akademisch aktiv war und einen antisemitischen, völkisch-rassistischen Beitrag über Ludwig Börne schrieb.« Masterfrage: Wie nennt man solch einen germanischen Germanisten? »Nazi« wäre falsch, richtig ist: jemanden der die »Auseinandersetzung mit seinen ideologischen Verwicklungen im« – richtig wäre: »mit dem« – »Nationalsozialismus unterlassen« hat.

Womit immerhin, soviel gelebte Praxeologie sei gerne attestiert, zwei zentrale Probleme der kurrenten Geisteswissenschaften als »Praxisgefüge«, zur schönsten Eintracht, ja, zum »Gemisch von Praktiken« quasi ex negativo zum Vorschein kommen: das Denken und das Schreiben.

Steffen Martus/Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022, 658 Seiten, 30 Euro

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  • Leserbrief von Sebastian R. aus Berlin ( 7. Januar 2023 um 15:02 Uhr)
    Toll geschriebene und analytisch scharfsinnige Rezension! Es wird schön deutlich, dass es den Verfassern nicht allein um Praktiken des geisteswissenschaftlichen Arbeitens geht, sondern um einen klassenspezifischen Habitus, den sie mit der Normvorstellung eines akademischen Habitus gleichsetzen. Dass gerade der wissenschaftliche Beruf bestimmte private, nämlich soziale und ökonomische, Voraussetzungen erfordert, wird offenbar bewusst ausgeblendet. Das Berlin-Zitat ist so dämlich wie entlarvend. Für solche Geisteswissenschaft mag sich interessieren, wer die Faszination für Stuhlanordnungen teilt und bei Tagungen gerne in der Mitte sitzt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin ( 5. Januar 2023 um 06:49 Uhr)
    Mich bewegen nach dem Lesen dieser Kritik drei Fragen. Erstens: Wie viele der jW-Leser können mit dem Begriff der Praxeologie und ihren Aufgaben überhaupt etwas anfangen? Zweitens: Muss die jW einen Artikel abdrucken, der sich einer solch speziellen Frage mit Überlangen und teils außerordentlich schwer verständlichen Sätzen widmet? Und drittens: Sollte Journalismus nicht auch die Kunst sein, eine Sache mit wenigen Sätzen auf den Punkt bringen zu können?
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Hamburg Altona ( 5. Januar 2023 um 14:02 Uhr)
      Bürgerliche Geisteswissenschaften, für mich Gehirngymnastik ohne Mehrwert, interpretieren nur Dinge und all das, was unnütz für den Lebenserhalt einer Gesellschaft ist. Sachen in kurzer verständlicher Form auf den Punkt bringen, das können nur ganz wenige. Das hat auch nix mit journalistischer Ausbildung zu tun, das ist Begabung.

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