Löcher
Von Helmut Höge
Von Jacques Becker kam 1960 ein Film ins Kino: »Das Loch«. Es geht darin um vier Inhaftierte, die aus einem Pariser Gefängnis flüchten wollen, indem sie einen Gang von ihrer Zelle zur Kanalisation graben. Ein fünfter macht zwar mit, doch ihm wird von der Gefängnisleitung gesagt, dass er bald entlassen werde. Als ihr Fluchtplan auffliegt, stürzen die vier sich auf den vermeintlichen Verräter, den die Gefängniswärter retten müssen. Ob durch ihn die Flucht scheiterte, lässt der Film offen.
Beim »Celler Loch« blieb dagegen nichts offen: Der fälschlich als RAF-Mitglied geltende Sigurd Debus hatte 1975 versucht, die Hamburger Verfassungsschutzzentrale in die Luft zu sprengen. Er saß u. a. deswegen 1978 im Hochsicherheitsgefängnis von Celle, als in die Außenmauer ein 40 Zentimeter großes Loch gesprengt wurde, um ihn zu befreien. Linke Journalisten brauchten acht Jahre, um zu beweisen, dass der niedersächsische Verfassungsschutz und die Antiterroreinheit GSG 9 die Täter waren – mit Wissen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht.
Für seine »Aktion Feuerzauber« hatte der Inlandsgeheimdienst zudem laut Wikipedia »Ausbruchswerkzeug in Debus’ Zelle schmuggeln lassen, das bei der auf den Anschlag folgenden Durchsuchung gefunden wurde und die Tatbeteiligung von Debus beweisen sollte«. Dazu hatte man einen gestohlenen Mercedes mit Munition und einem gefälschten Pass mit Foto von Debus als Fluchtauto präpariert und ein »Papier« veröffentlicht, das angeblich vom RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo stammen sollte, der ebenfalls in Celle einsaß. Darin stand, dass »durch Anschläge auf den äußeren Bereich von Vollzugsanstalten« eine »Zusammenlegung einsitzender Terroristen zu Interaktionsgruppen« erreicht werden solle.
Den Bombenanschlag selbst sollten zwei angeworbene Kriminelle – Klaus-Dieter Loudil und Manfred Berger – ausführen. Man erhoffte sich dadurch, dass sie als Spitzel (V-Leute) Zugang zur RAF finden würden. Loudil wurde den Medien als Tatverdächtiger präsentiert, als der staatsterroristische Akt, der die Gefährlichkeit der RAF beweisen sollte, aufflog und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, in dem die Regierung Albrecht »die Aktion als mindestens achtbaren Erfolg darstellte (Zugang zu Terrorismus, Ausbruch vereitelt, Waffen gefunden)«. Alles gelogen.
Laut Bericht des Untersuchungsausschusses zum Celler Loch waren sich die Mitglieder des Ausschusses uneinig über die Bewertung der Rolle der Spitzel. Einig war man sich nur darüber, »dass der Privatdetektiv Werner Mauss Konzepte und fingierte Aktionen der V-Männer unkontrolliert selbst bestimmen konnte«, wie der NDR-Journalist Jochen Grabert in der »Tagesschau« berichtete. Daraufhin bewirkte Mauss dort eine Gegendarstellung, in der es hieß: »Hierdurch kann der Anschein entstehen, ich sei an Konzepten und fingierten Aktionen beteiligt gewesen, die mit dem sogenannten Celler Loch in Verbindung stehen. In Wirklichkeit habe ich mit diesen Konzepten und Aktionen nie etwas zu tun gehabt.«
Mauss arbeitete seit 1969 im Auftrag der damals neu eingerichteten Ermittlungsgruppe des Bundeskriminalamtes. Er kam immer dann ins Spiel, wenn staatliche Organe nicht mehr weiterkamen, sich nicht »die Finger dreckig machen« wollten »oder eine Operation aus juristischen oder völkerrechtlichen Aspekten heraus nicht durchführen konnten«. Dabei betätigte er sich wohl auch als Agent Provocateur und stiftete zu Straftaten an, »deren Aufklärung er sich später zuschreiben ließ«.
Sigurd Debus wurde 1979 in ein Hamburger Gefängnis verlegt. Dort beteiligte er sich, nachdem Anträge auf Hafterleichterungen mit Hinweis auf den Sprengstoffanschlag (das Celler Loch) abgelehnt worden waren, im Februar 1981 an einem Hungerstreik der RAF-Gefangenen, der am 16. April 1981, obwohl oder weil er zwangsernährt wurde, zu seinem Tod führte.
Nun musste das aufgedeckte Staatsverbrechen aber noch in ein profitables Spektakel überführt werden und damit dem Vergessen anheimfallen: 1987 erschien ein Buch »Das Celler Loch«, 1989 ein gleichnamiger Dokumentarfilm. 2015 wurde vorm Eingang des Gefängnisses ein Denkmal für das Celler Loch aufgestellt. Es besteht aus einem Stück der Betonmauer, das in einen Edelstahlrahmen eingefasst und mit einer Texttafel versehen wurde. Schließlich brachte das Schlosstheater Celle auch noch ein Musical mit dem Titel »Celler Loch« auf die Bühne.
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