Lula im Amt
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
In seiner ersten Rede als Präsident Brasiliens hat Luiz Inacio Lula da Silva mit seinem Vorgänger abgerechnet. Er übernehme ein ruiniertes Land, in das der Hunger zurückgekehrt sei, sagte Lula am Sonntag (Ortszeit) nach seiner Vereidigung vor dem Kongress. Die ultrarechte Regierung von Jair Bolsonaro habe die Ressourcen für Bildung, das Gesundheitswesen und den Erhalt von Wäldern dezimiert. Menschenrechte seien nicht gewahrt worden. Diejenigen, die die Demokratie demontiert hätten, sollten zur Rechenschaft gezogen werden, sagte Lula, ohne Bolsonaro zu erwähnen. »Wir hegen keine Rachegefühle gegen diejenigen, die versucht haben, dem Land ihre persönlichen und ideologischen Vorstellungen aufzudrücken. Aber wir werden Rechtsstaatlichkeit garantieren.« Um dem zuvorzukommen, hat Bolsonaro das Land bereits am Freitag Richtung USA verlassen. In Florida soll er sich in einem Haus des früheren brasilianischen Kampfsportlers José Aldo in einer geschlossenen Wohnanlage einquartiert haben, wie die Zeitung Folha de S. Paulo am Sonnabend berichtete.
Seine Regierung werde die beste der Welt sein, hatte Lula vergangene Woche bei Vorstellung seines neuen Kabinetts erklärt: eine große Koalition aus neun Parteien von links bis mitte-rechts mit insgesamt elf Ministerinnen und 26 Ministern. Erklärte Regenwaldschützer, Indigene und Verteidiger der indigenen Rechte, vereint mit Vertretern des Agrobusiness und Gegnern der Demarkierung indigener Territorien. Bitter enttäuscht ist Brasiliens Grüne Partei, die keinen einzigen Ministerposten abbekommen hat, obwohl sie Lulas Wahl unterstützt hatte. Das »war falsch, hässlich und dumm«, kommentierte die Chefin der Grünen von São Paulo, Patricia Penna, die Ignorierung ihrer Partei gegenüber Folha de S. Paulo.
Um sein Versprechen einer Nullabholzungsstrategie im Amazonasgebiet und den Schutz der indigenen Territorien zu garantieren, hat der neue Präsident das Umweltministerium an die international als Umweltaktivistin bekannte Marina Silva vergeben, die das Ressort bereits während seiner ersten beiden Amtszeiten von 2003 bis 2008 innehatte. Das neugeschaffene Ministerium für indigene Völker wird seit Sonntag von Sônia Guajajara vom Volk der Guajajara aus dem nordöstlichen Bundesstaat Maranhão geleitet – »ein historischer Moment der Wiedergutmachung in Brasilien«, twitterte sie zu ihrer Ernennung. Sie ist die erste indigene Ministerin in der Geschichte der brasilianischen Republik. Sie gehört der sozialistischen PSOL an und ist Koordinatorin der Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB), einer Dachorganisation der indigenen Völker Brasiliens.
Mächtiger Gegenspieler der beiden Ministerinnen wird Senator Carlos Henrique Baqueta Fávaro sein, der das einflussreiche Landwirtschaftsministerium bekommen hat. Der Sozialdemokrat von der Zentrumspartei PSD stammt wie Sojabaron Blairo Maggi aus dem südlichen Bundesstaat Paraná und machte in Mato Grosso als Agrarproduzent und Politiker sein »Glück«. Bevor er Vizegouverneur und Senator des Bundesstaats wurde, vertrat er mehrere Jahre lang das Sojaagrobusiness als Vizepräsident und Präsident der Vereinigung der Sojaproduzenten Mato Grossos und Brasiliens (Aprosoja-MT und Aprosoja Brasil). Der Senator, der Lula bereits beim ersten Wahlgang unterstützt hatte, lobte bei seiner Ministerernennung den linken Präsidenten: Lula habe das Agrobusiness immer sehr gut behandelt.
Insbesondere Guajajara könnte auch Widerstand von seiten der neuen Planungsministerin Simone Nassar Tebet von der Partei Demokratisch-Brasilianische Bewegung (MDB) erfahren. Der Indigene Missionsrat (CIMI) zählte 2018 die Mitte-Rechts-Senatorin, studierte Rechtswissenschaftlerin und Großgrundbesitzerin aus Mato Grosso do Sul zu den Politikern, die am meisten gegen die Rechte der Ureinwohner im Parlament vorgegangen sind. So ist sie auch Autorin des Gesetzentwurfs 494/15, der darauf abzielt, die Demarkierung von indigenen Territorien in Landkonfliktgebieten zu verhindern. Die dem Agrobusiness nahestehende Tebet ist selbst Großgrundbesitzerin in einem Gebiet, das seit Jahren von den Guarani-Kaiowá beansprucht wird, aber noch nicht demarkiert ist.
Agrobusiness oder Indigene und Umweltschützer? Die ersten 100 Tage werden zeigen, wer sich am Ende in der neuen Regierung Lula da Silvas durchsetzen wird.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart ( 3. Januar 2023 um 12:30 Uhr)Brasiliens Demokratie hing am seidenen Faden, als Lula die brasilianische Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Aber die Euphorie über den Wahlsieg ist flüchtig und viele Brasilianer sind mit einem Kater konfrontiert, weil der zwar linksgerichtete Lula vor der Aufgabe, eine Nation wieder aufzubauen und zu vereinen steht, die nach vier Jahren der anarchischen, rechtsextremen Politik Bolsonaros angeschlagen und zutiefst gespalten ist. Die Herausforderungen sind immens: 33 Millionen Brasilianer leiden unter Hunger, 100 Millionen leben in Armut! Die Rückkehr des Hungers prangert Lula als das größte Verbrechen gegen das Volk an. Eine Mammutaufgabe, er steht vor seiner größten Herausforderung – das tief gespaltene Land zu einen und die Wirtschaftsprobleme ohne Parlamentsmehrheit in den Griff zu kriegen. Lula weiß sehr genau, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Monaten für den Erfolg seiner Regierung entscheidend sein wird. Aber seit Mitte November legen die Preise für einige Rohstoffe, für die Brasilien ein wichtiger Lieferant des Weltmarktes ist, deutlich zu: Das gilt für Soja und Eisenerz, aber auch für Orangensaft, Zucker und Kaffee. Brasiliens Wirtschaft könnte also auch 2023 von Rückenwind durch die globalen Rohstoffmärkte profitieren. Dieser Wachstumsschub aus dem Ausland könnte Lulas Regierungsfähigkeit angesichts der anspannten innenpolitischen Verhältnisse entscheidend positiv beeinflussen.
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