Zeit der Niederlagen
Von Frederic Schnatterer
Gegen Ende des Jahres 2022 kam dann doch noch Bewegung in die festgefahrene Situation. Am 12. Dezember einigten sich die im chilenischen Parlament vertretenen Parteien auf einen neuen Verfassungsprozess. Demnach soll ein »Verfassungsrat« entstehen, der sich aus 50 gewählten Vertretern sowie 24 vom Kongress bestimmten »Experten« zusammensetzt. Letztere sollen einen ersten Entwurf für einen Verfassungstext erarbeiten. Die weiteren Mitglieder des Rats sollen im April des kommenden Jahres gewählt werden, bis Oktober soll eine neue Konstitution vorgelegt werden.
Der Übereinkunft vorausgegangen waren 96 Tage Verhandlungen zwischen der Regierung des Sozialdemokraten Gabriel Boric und den beiden Parlamentskammern. Eine neue Herangehensweise war nötig geworden, nachdem am 4. September eine breite Mehrheit der wahlberechtigten Chileninnen und Chilenen gegen einen von einem gewählten Konvent ausgearbeiteten Verfassungsentwurf gestimmt hatte. Rund 62 Prozent lehnten den Text in einem Referendum ab. Eine so eindeutige Entscheidung hatte wohl niemand erwartet, auch wenn das »Rechazo« (Ich lehne ab) in Umfragen vorne gelegen hatte. Die Notwendigkeit, dem Land eine neue Konstitution zu verleihen, teilten alle wichtigen politischen Parteien. Darüber, wie eine solche ausgearbeitet werden sollte, gingen die Meinungen auseinander.
Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs bedeutete eine heftige Niederlage für die noch junge Regierung Boric. Der Präsident, der seit dem 11. März Staatschef des Landes ist, war auch infolge der monatelangen Proteste gegen die vorherige Regierung des rechten Politikers Sebastián Piñera in La Moneda in Santiago eingezogen. Noch als Abgeordneter seiner Sozialistischen Partei hatte der ehemalige Studierendenführer mit Piñera einen Fahrplan für eine neue Konstitution ausgehandelt, mit dem die noch aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) geltende abgelöst werden sollte. Ein Mandat dafür von jenen, die sich seit Monaten heftige Auseinandersetzungen mit den brutal agierenden Einsatzkräften auf den Straßen des südamerikanischen Landes lieferten, hatte er nicht.
Nachdem zunächst in einem Referendum eine eindeutige Mehrheit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hatte, wählten die Chileninnen und Chilenen einen Konvent, der einen neuen Text ausarbeitete. Das Gremium, das mehrheitlich aus linken und unabhängigen, also keiner politischen Partei angehörenden Abgeordneten bestand, legte Anfang Juli nach einjähriger Arbeit einen entsprechenden Entwurf vor. Auf 178 Seiten versprach dieser eine Abkehr vom unter Pinochet festgeschriebenen neoliberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell. Statt dessen sah er unter anderem einen universellen Zugang zum Gesundheitswesen, die Stärkung des öffentlichen Bildungssystems sowie mehr Rechte für die indigene Bevölkerung vor. Der Schutz der Umwelt sollte Verfassungsrang erhalten, ebenso die Gleichberechtigung von Frauen und anderen Identitäten.
Dass eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten am 4. September gegen die progressiven Vorschläge stimmte, schwächte nicht nur die Regierung, sondern bedeutete einen heftigen Schlag für die gesamte chilenische Linke. Während Teile versuchen, die Niederlage mit einer gut organisierten Lügenkampagne von rechts zu erklären, oder die erstmals seit vielen Jahren wieder geltende Wahlpflicht verantwortlich machen, sehen andere die Schuld bei der Regierung. Boric, der auch mit der Kommunistischen Partei Chiles regiert, hatte die Abstimmung über den Verfassungsentwurf zur Chefsache erklärt. Dadurch wurde sie für manche zu einem Referendum über die bisherige Amtszeit des Sozialdemokraten. Wieder andere kritisierten, der Verfassungsentwurf habe sich zu sehr auf Fragen der Identität konzentriert, während soziale Belange nicht genug berücksichtigt worden seien.
Boric war im Dezember 2021 in der Stichwahl gegen Antonio Kast, Ultrarechter und Sohn eines deutschen Wehrmachtsoffiziers, mit 55 Prozent der Stimmen ins Präsidentenamt gewählt worden. Absolut kam der Sozialdemokrat auf so viele Stimmen wie zuvor kein anderer Staatschef Chiles. Besonders Frauen und junge Chileninnen und Chilenen setzten große Hoffnungen in die erste progressive Regierung des Landes seit dem blutigen Pinochet-Putsch 1973. Mittlerweile ist das anfängliche Vertrauen jedoch bei großen Teilen der Bevölkerung verspielt, die Zustimmungsrate zu Boric liegt laut einer Umfrage des Instituts Cadem vom 18. Dezember bei gerade einmal 30 Prozent.
Im sozialen Bereich sind der sozialdemokratischen Regierung einerseits wegen der angespannten Wirtschaftslage, andererseits wegen der Verfassung von 1980 zumindest in Teilen die Hände gebunden. Eigentlich waren Reformen beim Rentensystem, der Bildung sowie der Gesundheit geplant – die alle auf die Zeit nach dem Verfassungsreferendum verschoben wurden. Nach der Schlappe baute der Staatschef sein Kabinett um: Vier Minister mussten gehen, linke Neubesetzungen – so die des KP-Mitglieds Nicolás Cataldo als Untersekretär für Inneres – wusste die Rechte zu verhindern. Die Umbildung bedeutete einen weiteren Schritt in Richtung Sozialdemokratisierung der Regierung.
Zumindest beim Thema Renten tut sich seit November etwas: So stellte die Regierung einen Plan vor, laut dem die privatisierten Rentenfonds AFP teilweise einem sogenannten gemischten System weichen sollen. Eine völlige Enteignung der privaten Pensionsverwalter, wie sie zwischenzeitlich im Raum stand, wird es hingegen nicht geben.
Auch im Süden des Landes brachte die neue Regierung wenig Veränderungen mit sich. Die Gebiete, in denen Gemeinschaften der indigenen Mapuche leben (Wallmapu auf Mapudungun), sind auch zehn Monate nach Boric’ Amtsantritt stark militarisiert. Während die Regierung anfangs den Dialog mit nach mehr Autonomie strebenden Mapuche-Organisationen suchte, setzt sie vor allem seit dem gescheiterten Besuch der damaligen Innenministerin Izkia Siches im März auf die fortgeführte Militarisierung des Gebiets. Seit Mai verlängert die Regierung den Ausnahmezustand in der Region Araucanía immer wieder aufs neue.
Nach nicht einmal einem Jahr »progressiver« Regierung befindet sich die Rechte in Chile im Aufwind. Es ist wahrscheinlich, dass sie die Ausrichtung einer neuen Verfassung maßgeblich bestimmen wird. Boric hat ihr nicht viel entgegenzusetzen. Für die radikale Linke sind die Zeiten keine einfachen.
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Leserbrief von Armin Christ aus Löwenberger Land (31. Dezember 2022 um 09:53 Uhr)Als Studentenführer war Boric ein ganz Linksradikaler –– na ja, so einer ohne Konzept – und nun lässt er sich beraten, auch von SPD-Opportunisten. Sozialdemokratische Positionen sind nichts Schlechtes, aber die Spezialdemagogen bringen den Begriff immer wieder in Verruf. Betrachten wir unsere eigene Misere: Innerhalb der Linken versucht man, Sozialdemokraten ins Abseits zu drängen. Bei den Grünen gibt es die nicht mehr, in der SPD sind sie kaum noch wahrnehmbar und bei den sog. Linken haben Sahra Wagenknecht, Sevim Dagdelen etc., die originär sozialdemokratische Standpunkte vertreten, einen sehr schweren Stand gegen die Pfründeverteidiger.
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