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Aus: Ausgabe vom 28.12.2022, Seite 16 / Sport

Lob des Barrio und weitere Sozialromantik

Von André Dahlmeyer
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In diesem Ambiente entsteht der Stil des argentinischen Fußballs: Wandmalerei in Rosario

Einen wunderschönen guten Morgen! Für die sich als zivilisiert verstehende linke Gemeinde in Alemannien war die WM in Katar eine große Niederlage. Dort ist man überwiegend der Steinbeckschen Ansicht aufgesessen, dass Geld eben (mehr) Geld bringe und Fußball und Profisport überhaupt ohnehin Mord seien. Nun, dass Fußball bis heute die Massen begeistert, kann und sollte man den Massen nicht vorwerfen. Fußball ist ein Sport, der außerhalb Europas überwiegend erschwinglich ist, zumindest wenn man das Stadionzäpfchen wählt und dort in den Kurven steht. Und es ist ein Sport, in dem eben nicht zwingend Favoriten oder Teams respektive Nationalmannschaften gewinnen, nur weil sie über mehr Bakschisch verfügen. Was besser ist, könnte man meinen, sei die sportliche Ausbildung in den europäischen Kneteklubs. Was ist das »Besser«?

Die Wiege der Scaloneta, der neuen Weltmeistergoldjungs aus Argentinien, sind die kleinen Stadtviertelklubs, dort wurden die Früchte des Ruhmes schon früh gesät. Die meisten dieser Kicker begannen mit dem Balltreten auf verwilderten leerstehenden Grundstücken, auf Hartplätzen und manche am Rande von Müllhalden. Der in Katar nicht zum Einsatz gekommene, auf Wunsch Messis nachnominierte Thiago Almada lernte das Laufen im Hochhausghetto von Fuerte Apache vor den Toren der Hauptstadt. Daher hat der ebenso dort aufgewachsene Carlos Tévez seinen Spitznamen: Apache.

Der sportliche Erfolg von Jungs wie Lionel Messi, Ángel Di María, Dibu Martínez, Julián Álvarez oder Enzo Fernández begann an dem Tag, als sie zum ersten Mal in ihrem Barrio das Vereinsgelände betraten und gegen einen Ball latschten, meist auf kaputten Zementplätzen, wo man sich regelmäßig die Knie blutig schürft. In diesem Ambiente schmieden sich für gewöhnlich der Stil und Charakter silberländischen Balltretens. Talentschmieden wie die Vereine General Urquiza aus dem populären Atlantikbadeort Mar del Plata (Dibu Martínez), El Tala aus González Catán (Gonzalo Montiel), Barrio Nuevo aus Villa Devoto (Nicolás Otamendi), Don Bosco aus Zapala (Marcos »Ei« Acuña), La Recova aus Villa Lynch (Enzo Fernández), El Torito (das Stierchen) aus Rosario (Di María), Atlético Calchín (Julián Álvarez) oder der Grandoli FC (Rosario) von Lionel Messi verdienten deutlich mehr als nur ehrenhafte Scheinaufmerksamkeit. Eine Bronzetafel hier, eine dort. Wind bekommt davon nur die Lokalpresse, interessieren tut’s niemanden, außer die guten alten Bronzediebe.

Die soziale Funktion dieser Stadtviertelklubs ist sichtbar und unbestritten. Die Alternative ist eine Drogenkarriere. Die Vereine sind Teil der systematischen Früherkennung und Entwicklung des Talents bei Kindern und Jugendlichen und müssten eigentlich in irgendeiner Weise vom Staat, den Provinzen oder den Kommunen wirtschaftlich unterstützt werden. In der Regel ist das nicht der Fall. Und warum nicht erst recht von der AFA, dem argentinischen Fußballverband, der gerade für den von Rodrigo de Paul, Cuti Romero, Alexis Mac Allister und ihren Freunden eingeheimsten WM-Titel sagenumwobene 52 Millionen US-Dollar eingestrichen hat?

Die argentinischen Fußballspieler durchlaufen diese gemeinnützigen Vereine, ohne die der Triumph des Lusail unvorstellbar ist. Sie sind Teil des kulturellen und emotionalen Erbes, vor allem außerhalb der großen Städte, unterstützen Millionen von Familien und müssen vor dem Geschäft mit dem Fußball und vor Mauricio Macri, dem Boss der FIFA-Stiftung, geschützt werden, der aus den argentinischen Sportvereinen Aktiengesellschaften machen will. Nächstes Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Gewinnen Macris Republikaner, wird der Gangster versuchen, die Stadtviertelvereine durch Strompreiserhöhungen von mehreren tausend Prozent in den Ruin zu treiben, so viel ist sicher.

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