Letzte Lücke geschlossen
Von Hansgeorg Hermann, Paris
Frankreichs bürgerliche Rechte hat am Sonntag Éric Ciotti zum neuen Chef gewählt. Die angeblich rund 90.000 Mitglieder der Partei Les Républicains (LR) stimmten mit 53,7 Prozent für den Parlamentsabgeordneten aus der Region Alpes-Maritimes. Sein Gegenkandidat Bruno Retailleau kam auf 46,3 Prozent, die Wahlbeteiligung lag nach Angaben des LR-Sekretariats bei knapp 70 Prozent.
Nach allgemeiner Einschätzung schließt die Partei mit der Wahl Ciottis endgültig die Lücke, die es zwischen den Bürgerlichen und der extremen Rechten einer Marine Le Pen noch ansatzweise gegeben haben mag. Schon im vergangenen Frühjahr, kurz nach der gegen Emmanuel Macron verlorenen Präsidentschaftswahl, hatte die EU-Abgeordnete Nathalie Loiseau die Position ihres jetzigen Chefs definiert: Zwischen Le Pens Bewegung Rassemblement National (RN) und Ciotti passe nicht mehr als »ein Blatt Zigarettenpapier«.
»Was uns generell vom Rassemblement National unterscheidet«, hatte Ciotti im April präzisiert, »ist unsere Fähigkeit zu regieren«. Nach drei verlorenen Präsidentschaftswahlen – eine gegen den Sozialdemokraten François Hollande, zwei gegen den Rechtsliberalen Macron – sei die »Regierungsfähigkeit« der Républicains in der Tat eine der wichtigsten Aufgaben, die unter seiner Führung gelöst und die vor den Wählern unter Beweis gestellt werden müsse, erklärte Ciotti am Sonntag abend in Paris. Bei den Parlamentswahlen am 19. Juni hatten die Bürgerlichen bzw. das politische Lager der früheren Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy nur noch knapp sieben Prozent der Wählerstimmen eingefahren und waren mit 61 Sitzen in der Nationalversammlung weit hinter Le Pens RN mit 89 Mandaten zurückgeblieben.
Ciotti hatte sich im Frühjahr vergeblich um die Präsidentschaftskandidatur der Républicains bemüht. In den Wochen vor der Wahl bezeichnete er dann den Faschistenführer Éric Zemmour öffentlich als nicht nur politischen »Freund«, dem er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl seine Stimme geben werde. Zemmour und seine Formation Reconquête (Rückeroberung) verpassten einen Monat später zwar den Einzug in die Nationalversammlung; der Faschokandidat selbst allerdings überflügelte mit 7,07 Prozent der Stimmen die LR-Kandidatin Valérie Pécresse, die mit nur 4,78 Prozent förmlich unterging und die Partei – wegen des von ihr beklagten Rechtsrucks – verließ. Pécresse, Verwaltungspräsidentin der Region Île-de-France sowie ehemalige Budget- und Forschungsministerin unter Sarkozy, gründete ihre eigene, bislang wenig erfolgreiche Partei Soyons libre (deutsch: Lasst uns frei sein).
Nicht ohne Häme kommentierte Zemmour am Sonntag im TV-Kanal BFM den Aufstieg seines »Freunds« Ciotti; die Républicains seien inzwischen »eine kleine Partei, eine Abgeordnetenpartei«, die »am Ende ihres Lebens angekommen« sei. Seine Bewegung, deren Ideologie in der Behauptung gipfelt, »der Islam« sei dabei, die christlich-jüdische Gesellschaft durch eine muslimische Herrschaft »zu ersetzen«, stehe dagegen »erst am Anfang«. Tatsächlich gehören ausgeprägte Islam- und generelle Fremdenfeindlichkeit auch zu Ciottis Kernprogramm. Eng mit sogenannter Identitätspolitik verbunden ist sein Versprechen, »in den Straßen« des Landes für »Recht und Ordnung« zu sorgen sowie den sich seiner Meinung nach beschleunigenden »Niedergang und die Dekadenz Frankreichs« aufzuhalten.
Mit Ciotti kehrt auch Laurent Wauquiez ins politische Rampenlicht zurück. Der Präsident der Region Auvergne-Rhône-Alpes und LR-Rechtsaußen war bereits 2017 und 2019 für eineinhalb Jahre Parteichef. Nun wollen Ciotti und seine Helfer den strengen Katholiken und 47jährigen Spross einer Industriellenfamilie zum Präsidentschaftskandidaten für 2027 aufbauen. Womöglich im Schulterschluss mit Marine Le Pens Truppe, denn die langjährige Führerin des Rassemblement (früher Front) National will selbst nicht noch einmal antreten. Gemeinsames Ziel einer solchen, von Ciotti nun ideologisch zusammengeführten breiten Bürger- und Volksfront könnte es sein, die vom amtierenden Präsidenten bereits weit nach rechts verlagerte Regierungspolitik als »Macronismus ohne Macron« weiterzuführen.
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