Notfall Pflege
Von Gudrun Giese
Eine Grippewelle geht durchs Land, und schon steht das Gesundheitssystem endgültig vor dem Zusammenbruch. In den Kinderkliniken sind längst sämtliche Intensivbetten belegt. Überall herrscht Personalnotstand. Allein im Pflegebereich fehlen nach Angaben des zuständigen Berufsverbands DBfK 200.000 Vollzeitkräfte. »Wenn wir nicht schnell grundlegende Reformen bekommen, kann man die pflegerische Versorgung in Deutschland nicht mehr aufrechterhalten«, sagte DBfK-Präsidentin Christel Bienstein am Freitag dem Reaktionsnetzwerk Deutschland.
Nun wurde gleichentags im Bundestag ein »Krankenhauspflegeentlastungsgesetz« verabschiedet, das der DBfK gelobt hatte, nachdem es in seinem Sinne nachgebessert worden war. Zentral für den Verband war die Einführung der »Pflegepersonalregelung 2.0« (PPR 2.0), mit der die Ausrichtung am realen Bedarf kommen soll. »Die PPR 2.0 wird für Erwachsene und Kinder umgesetzt, und auch die von uns geforderte Personalbedarfsermittlung für Intensivstationen wird erprobt«, hatte Bienstein am Donnerstag zufrieden mitgeteilt.
Kritik an dem Instrument kam am Freitag von der Techniker Krankenkasse: Durch PPR 2.0 werde kein einziges Problem in der Pflege gelöst. »Statt neuer Kolleginnen und Kollegen wird die geplante Pflegepersonalbemessung den Pflegekräften jede Menge zusätzlichen Bürokratieaufwand bescheren«, sagte Vorstandschef Jens Baas gegenüber dpa.
Auch der DBfK kam am Freitag schnell wieder auf den akuten Fachkräftemangel zu sprechen. Obwohl die Zahl der Beschäftigten in der Pflege gestiegen sei, fehle Personal, da »bis zu 70 Prozent«, so Bienstein, in Teilzeit arbeiteten und die Krankheitsquote wegen der enormen Arbeitsverdichtung höher sei als in jeder anderen Berufsgruppe. In den Kliniken sei »eine sichere und qualitativ hochwertige Pflege kaum mehr möglich«.
Besonders angespannt ist die Situation derzeit in den Kinderkliniken. Grippeviren gehen um. Betten können mangels Personal nicht belegt werden. Nach Angaben der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gibt es aktuell »rechnerisch nur noch 0,75 freie Betten pro Klinik« – jede zweite habe in den vergangenen 24 Stunden mindestens ein Kind nach der Anfrage durch den Rettungsdienst oder die Notaufnahme ablehnen müssen.
Das im Bundestag verabschiedete Entlastungsgesetz enthält weitere kritikable Regelungen: So sollen bestimmte Krankenhausuntersuchungen künftig ambulant stattfinden, die Patienten also zu Hause übernachten. Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, warnte am Freitag: »Wir müssen unbeeinflusst von wirtschaftlichen Erwägungen der kaufmännischen Leitungen entscheiden können.« Es gebe immer mehr Menschen, die sich nach Eingriffen im Krankenhaus »nicht ausreichend allein versorgen können« und auf Hilfe angewiesen seien.
Der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, erklärte am Freitag: »Die knappe Personaldecke in allen Abteilungen, nicht nur in den Kinderkliniken, ist Folge einer Politik, die die Krankenhäuser jahrelang kaputtgespart hat und die Kliniken unter einen wirtschaftlichen Druck gesetzt hat, der letztlich nur über Einsparungen beim Personal realisiert werden konnte.«
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) betrachtet das neue Entlastungsgesetz als »kleine« Gesundheitsreform; eine »große« soll kommende Woche folgen. Er plane den »Beginn einer Revolution« bei der Klinikvergütung. Da können sich Patienten und Personal noch auf einiges gefasst machen.
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