Danaergeschenk für Streikende
Von Gerrit Hoekman
Schon lange sind 300 Stellen unbesetzt. Die Belegschaft leidet unter dem Arbeitsdruck. Die Zahl der Überstunden beläuft sich mittlerweile auf 13.000. Aber sie abzufeiern, ist kaum möglich, genausowenig wie den regulären Urlaub zu nehmen. Am Montag abend legten deshalb die Bediensteten der staatlichen belgischen Bahngesellschaft SNCB/NMBS und des Infrastrukturunternehmens Infrabel für 24 Stunden die Arbeit nieder. »Wir streiken gegen den Mangel an Personal«, sagte Gunther Blauwens, Chef der sozialistischen Gewerkschaft ACOD Spoor, am Sonntag in der Nachrichtensendung VTM-Nieuws. Ab Mittwoch ruft anschließend die kleine Gewerkschaft der Zugführer ASTB für zwei Tage zum Streik auf.
Die Gewerkschaften haben die Direktion mehrfach erfolglos aufgefordert, den unhaltbaren Zustand zu beseitigen. »Der Ehrgeiz der Regierung, die Eisenbahn zum Rückgrat der Mobilität zu machen, scheint in weiter Ferne«, kommentierte die Tageszeitung Het Nieuwsblad am Montag. Die Organisationen drohen schon jetzt mit neuen Streiks vor Jahresende, für den Fall, dass sich die Situation nicht nachhaltig ändere.
»Für Pendler scheint es eine schreckliche Woche zu werden«, fürchtete VTM-Nieuws. Die Bahngesellschaft erwartet, dass während der drei Tage nur ein Viertel der Regionalzüge und die Hälfte der Intercity fahren. Die Zusatzzüge in den Stoßzeiten morgens und abends werden ersatzlos gestrichen. In den Provinzen Namur, Luxemburg und einem Teil von Wallonisch-Brabant werde der Zugverkehr komplett eingestellt, weil Infrabel für das wichtige Stellwerk in Namur nicht genügend Arbeitswillige finden konnte, teilte die Bahn in einer Presseerklärung am Freitag mit.
Noch auf den letzten Drücker hatte der Bahnvorstand versucht, die Angestellten mit einer einmaligen Prämie von 100 Euro zu besänftigen oder besser gesagt zu bestechen. »Zuerst dachte ich, das sei ein Witz«, erzählte Blauwens am Freitag der Tageszeitung De Morgen. Die Gewerkschaften lehnten das Danaergeschenk dankend ab. »Einmal 100 Euro, das ist keine Kaufkrafterhöhung«, erklärte Stefan T’Jolyn, Gewerkschaftsfunktionär in der Provinz Limburg, am Freitag beim Regionalsender TVL. In erster Linie geht es den Gewerkschaften nicht so sehr um mehr Geld, sondern wirklich um eine deutliche Reduzierung der Überstunden – sprich: Es geht um mehr Personal. Sie wollen strukturelle Lösungen, keine Almosen.
Die Fahrgastorganisation »Trein Tram Bus« berichtete vergangene Woche in Het Nieuwsblad von zahlreichen Beschwerden über den miesen Service der Bahn: »Es ist schon einige Male passiert, dass um 7.30 Uhr ein Zug von Antwerpen nach Brüssel mit nur drei Waggons abfährt anstatt wie normalerweise mit zehn.« Die Folge ist ein überfüllter Zug, in dem sich die Fahrgäste wie Sardinen in der Büchse fühlen. Auf den Bahnhöfen entlang der Strecke müssen Fahrgäste auf den nächsten Zug warten, weil sie keinen Platz mehr finden. Darunter leidet natürlich auch das Personal, das den Ärger der Reisenden als erstes und direkt abbekommt. Auch das sorgt für Frust bei der Belegschaft.
Die SNCB/NMBS räumt Probleme ein. »Einerseits müssen wir älteres Material jetzt länger und öfter herumfahren lassen als angenommen. Denn eine Lieferung neuer Doppelstockzüge hat sich um rund zwei Jahre verzögert«, erklärte ein Sprecher gegenüber Het Nieuwsblad. Eigentlich hätten schon Ende letzten Jahres 445 neue Waggons des 2021 fusionierten, französischen Herstellers Alstom Bombardier fertiggestellt sein sollen. Aber über 200 von ihnen sind immer noch nicht geliefert worden. »Unsere Zugflotte ist jetzt im Durchschnitt 25 Jahre alt. Natürlich sind diese alten Geräte anfälliger für Ausfälle.« Hinzu kommt der Personalmangel im Wartungsteam. »Wir bemühen uns, zusätzliches technisches Personal zu finden, aber das ist auf dem aktuellen Arbeitsmarkt nicht einfach«, warb der Bahnsprecher um Verständnis. Die Regierung hat der Bahn und Infrabel pro Jahr 340 Millionen Euro zugesichert, um in die Infrastruktur zu investieren. Die letzten zwei Milliarden Euro gingen für die Kompensation von Verlusten, die während der Coronapandemie entstanden, oder für die hohen Energierechnungen drauf.
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