Verschobene Kräfteverhältnisse
Von Wiebke Diehl
Bis heute drängt der UN-Sondergesandte für den Jemen, Hans Grundberg, westliche Regierungen und die von Teilen der »internationalen Gemeinschaft« anerkannte, demokratisch aber nicht legitimierte »Regierung« in Aden auf eine Verlängerung bzw. Erneuerung der Feuerpause, die am 2. Oktober auslief. Den Ansarollah wird vorgeworfen, unerfüllbare Bedingungen für ihre Fortsetzung gestellt zu haben. Dabei sind nicht nur die vollständige Aufhebung einer völkerrechtswidrigen Blockade, die täglich Menschenleben kostet, und die Zahlung der Gehälter von Staatsbediensteten fraglos legitime Anliegen. Auch deutet das Beharren der im Westen als Huthi titulierten Kämpfer auf in den vergangenen Jahren erheblich zu ihren Gunsten verschobene Kräfteverhältnisse im Land hin.
Der Präsidialrat in Aden, der im April die Befugnisse des ehemaligen »Präsidenten« Abed Rabbo Mansur Hadi übernommen hat, ist schwach und mit bewaffneten Auseinandersetzungen auch unter der »Anti-Huthi-Allianz« konfrontiert, genau wie schon sein Vorläufer es jahrelang war. Militärisch hat man den Ansarollah zuwenig entgegenzusetzen – im Falle einer Wiederaufnahme umfassender Kampfhandlungen würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach trotz Luftangriffen durch die von Saudi-Arabien angeführte Kriegskoalition weitere Geländegewinne machen, insbesondere in der öl- und gasreichen Provinz Marib, der letzten Hochburg der »Regierung« im Norden des Landes, die zugleich Sitz ihres Verteidigungsministeriums ist. Würde die gleichnamige Stadt an die Ansarollah fallen, wäre dies wohl kriegsentscheidend. Marib könnte für sie zum Stützpunkt für weitere militärische Operationen bis tief in den Süden des Landes werden.
Sowohl die »Regierung« als auch Riad, dessen Ölanlagen und Flughäfen seit Jahren in Vergeltung für den Angriffskrieg von Drohnen und Raketen der Ansarollah getroffen werden und das Schätzungen zufolge bereits weit mehr als 100 Milliarden US-Dollar in den längst verlorenen Krieg investierte, sind dringend auf einen gesichtswahrenden Ausweg angewiesen. Dass der US-Sondergesandte Timothy Lenderking das Vorgehen der Ansarollah kürzlich als »Provokation gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft« bezeichnete, durch die »den Jemeniten im ganzen Land auch dringend benötigte Ressourcen« entzogen würden, ist da wenig zielführend. Vorausgegangen war am 21. Oktober ein von den Ansarollah verübter Drohnenangriff auf das Ölterminal im Hafen von Al-Dabba in der Provinz Hadramaut. Wie Militärsprecher Jahia Sarea erklärte, wollte man »einen Öltanker daran (…) hindern, Rohöl (…) zu plündern«. Völlig irrational aber ist die Einstufung der großen Rückhalt unter der Bevölkerung genießenden Organisation als »Terrorgruppe« durch den Nationalen Verteidigungsrat unter Leitung des Präsidialratsvorsitzenden Raschad Alimi.
Schon seit Wochen hatten die Ansarollah gewarnt, sie würden Ölanlagen und Schiffe – auch in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten – angreifen, um »internationale Plünderungen« zu verhindern. Im August hatte die jemenitische Nachrichtenagentur Saba berichtet, Rohöl- und Gaseinnahmen »in Höhe der Gehälter aller Staatsangestellten für einen Zeitraum von sieben Monaten« seien von der Kriegskoalition gestohlen worden. Die beteiligten Unternehmen sollten den Raub sofort stoppen, sonst würden sie zum militärischen Ziel, hatte der Oberste Politische Rat der Ansarollah gewarnt.
Ein Ende der Angriffe hat die Listung der Ansarollah jedenfalls nicht gebracht: Am 9. November steuerten sie erneut eine Drohne in Richtung eines ausländischen Öltankers im Hafen von Kina in der Provinz Schabwa. Zukünftige Verhandlungen über einen dauerhaften Waffenstillstand und damit eine Linderung der humanitären Katastrophe aber hat der Schritt der »Regierung« in Aden, die auf ein Ende des Krieges aus militärischer Sicht doch eigentlich so viel stärker angewiesen ist als die Ansarollah, wohl für lange Zeit deutlich erschwert.
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