Umkämpfte Übergabe
Von Volker Hermsdorf
In Brasilien wird die Übergabe der Regierungsgeschäfte vom ultrarechten Amtsinhaber Jair Bolsonaro an seinen Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva zügig vorangetrieben. Der am 30. Oktober mit 50,9 Prozent der Stimmen knapp gewählte Kandidat der linken Arbeiterpartei (PT) wird seine dritte Amtszeit am 1. Januar antreten. Überschattet wird der Übergabeprozess allerdings weiterhin von Protesten militanter Anhänger des Wahlverlierers.
Am Dienstag (Ortszeit) forderten Tausende Demonstranten in der Hauptstadt Brasília, in Rio de Janeiro, São Paulo und anderen Städten erneut ein Eingreifen des Militärs. Die Bolsonaro-Anhänger bildeten Menschenketten um das Hauptquartier der Streitkräfte in São Paulo und knieten betend und singend vor Kasernen nieder, berichtete die brasilianische Tageszeitung Folha de São Paulo. Darunter waren nicht nur Angehörige der reichen, weißen Elite. »Wir wollen nicht, dass Lula am 1. Januar das Kommando übernimmt. Wir wollen kein kommunistisches Land werden«, begründete die Bankangestellte Laís Nunes ihre Teilnahme gegenüber AFP. Bestärkt fühlen sich die Protestierenden durch zweideutige Erklärungen hoher Militärs. Zwar hatte die Führung der Streitkräfte am 9. November offiziell erklärt, dass bei den Wahlen alles korrekt verlaufen sei, doch hatte Bolsonaros Verteidigungsminister Paulo Sérgio Nogueira de Oliveira hinzugefügt, dass das »elektronische Wahlsystem nicht vor Betrug gefeit ist«.
Ungeachtet der Proteste werde die Regierungsübergabe wie geplant im Kulturzentrum Banco do Brasil in der Hauptstadt Brasília stattfinden, erklärte Lulas künftiger Vizepräsident Geraldo Alckmin. Zum Übergangsteam, das sich an diesem Donnerstag zu seiner zweiten und am 24. November zur dritten Sitzung treffen will, gehören neben zahlreichen Fachleuten der politischen Ressorts auch Vertreter der Landlosen- und Obdachlosenbewegung sowie der indigenen Gemeinschaften. Angekündigt wurde unter anderem die Einrichtung eines Ministeriums für indigene Völker unter Leitung der ersten gewählte indigenen Bundesabgeordneten für São Paulo, Sônia Guajajara. Die künftige Ministerin begleitete Lula bereits zur UN-Klimakonferenz (COP 27) in Scharm Al-Scheich, wo dieser – als sei er bereits im Amt – mit der Botschaft »Brasilien ist zurück« ankündigte, im Kampf gegen die globale Erwärmung auch die unter Bolsonaro vorangetriebene Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes einzuschränken.
Von den Brandrodungen profitierende Unternehmen dürften darin eine Kampfansage sehen. Auch andere Vorhaben beunruhigen die rechtskonservativen Eliten. Als weitere Priorität seiner Regierung hatte Lula bereits im Wahlkampf die Beseitigung des Hungers bezeichnet. Bei einem Treffen mit Abgeordneten und Senatoren ergänzte er am Donnerstag vergangener Woche, es sei wichtig, soziale Fragen wie den Kampf gegen den Hunger vor staatliche Kürzungsprogramme zu stellen. Der »Markt« habe darauf »mit einem Rückgang des Börsenindexes und einem Anstieg des Wechselkurses« reagiert, berichtete das Nachrichtenportal Brasil de Fato. Die PT-Vorsitzende Gleisi Hoffmann erwiderte auf Fragen von Journalisten, sie habe die Haltung des Marktes mit »Erstaunen« zur Kenntnis genommen. In seinen ersten beiden Amtszeiten habe Lula seinen verantwortlichen Umgang mit den Staatsfinanzen zum Wohle des Landes bewiesen. »Die gleichen Leute, die ernsthaft über Ausgabenkürzungen diskutieren, diskutieren nicht über die soziale Frage in diesem Land«, bekräftigte der künftige Staats- und Regierungschef seine Position zur Sozialpolitik.
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